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Dossier: Portraits

Der fahrende Mentor: «Pferde sind hervorragende Therapeuten»

17 November 2014 08:00

Das Team Ufwind rund um den Fahrer Toni Stofer fällt aus der Reihe: Statt Grooms sitzen gepiercte, tätowierte oder schwarze Jugendliche mit auf der Kutsche. Dahinter steckt Kalkül – durch den Umgang mit Pferden sollen die Teenager wieder auf den richtigen Weg finden.

«Nico ist ähnlich wie ich: ein Schlitzohr – etwas stur, aber dennoch sensibel», sagt Kevin schmunzelnd und streichelt dem Freibergerwallach liebevoll über die Stirn. Es ist ein kühler Herbstvormittag im Luzerner Hinterland. Nebelschwaden umhüllen die Pferdebeine. Der 18-Jährige halftert Nico an und führt ihn zum Putzstand. Die Ruhe wird nur ab und an von einem Wiehern oder einem Klappern der Hufe durchbrochen. Heile Welt hoch über Sempach-Neuenkirch, könnte man meinen. Doch der Schein trügt.

Hier geht es nicht etwa darum, pferdebegeisterten Mädchen und Jungen das Reiten beizubringen. Hier sind die Pferde mehr als Lehrmeister. Sie sind Psychologe, Coach, warme Schulter und Spiegelbild in einem. Oder anders ausgedrückt: «Die Pferde sind ein wichtiger Pfeiler in unserem Therapiekonzept», betont Toni Stofer, Leiter des Therapieheims Ufwind. Der 60-Jährige mit dem schelmischen tiefen Lachen und den strahlend blauen Augen hat die Institution vor fast 20 Jahren gegründet. Im Heim stranden Jugendliche, welche die Gesellschaft schon fast abgeschrieben hat. Familiärer Knatsch, Drogenkonsum und psychische Probleme prallen aufeinander. Die meisten Jugendlichen haben schon erfolglos ambulante oder stationäre Stellen durchlaufen. «Wir sind oft die letzte Anlaufstelle», betont Stofer. 

Das Konzept ist ganzheitlich und durchdacht: Im stationären Wohnheim haben sieben Jugendliche Platz. Die meisten blieben zwischen drei und sechs Jahren. Betreut werden sie von einem Team bestehend aus Sozialarbeitenden – und Pädagoginnen, einem Psychiater und einer Lehrerin. In erster Linie geht es darum, die Jugendlichen langfristig wieder zu integrieren und sie auf eine Lehre vorzubereiten. Um dies zu erreichen, holen sie schulische Defizite auf. Sie lernen aber auch, was es heisst anzupacken – sei dies im Haushalt, im Garten, in der Schreinerei, Schlosserei – oder bei den sechs Freibergern.

Spitzensport ahoi
Dieser Dienst fällt heute Kevin zu. Der 18-Jährige ist seit gut einem Jahr im Therapieheim. Damals war er alles andere als angetan von den Vierbeinern. Zu viel Mist, im Winter zu kalt, im Sommer zu warm und immer zu dreckig. «Die Arbeit machte mir überhaupt keinen Spass», erinnert sich Kevin. Dennoch haute er auf dem Weg zum Stall nie ab oder schlampte bei der Arbeit. Etwas, was Stofer oft beobachtet. «Die jungen Menschen fühlen sich den Pferden gegenüber verpflichtet. Schliesslich ist es ein Lebewesen, das sich nicht wehren kann.» Schritt für Schritt lernen sie dabei, wieder Verantwortung zu übernehmen, zuverlässig den Futterdienst einzuhalten oder auch mal durchzubeissen, wenn die Mistkarre allzu schwer erscheint und der kalte Wind ins Gesicht bläst.

Daneben spiegeln die Vierbeiner das Verhalten der Jugendlichen gnadenlos. Egal, ob aggressiv, lustlos oder deprimiert – Pferde reagieren auf jede Gefühlsschwankung. «Pferde sind hervorragende Therapeuten», so Stofer. Er weiss, wovon er spricht: Schon seit jeher setzt Ufwind auf Vierbeiner. Zuerst waren es zwei, dann vier, dann sechs. Anfänglich führten sie Trekkings durch. Dann fuhren sie mit den Freibergern über Pässe, immer weiter, immer länger. Bis vor zehn Jahren die Idee keimte, auch an Fahrturnieren teilzunehmen. Im Vordergrund stand der Spass. Im Hintergrund war es eine gute Beschäftigung für die Jugendlichen an den vor allem in der Anfangsphase schwierigen Wochenenden. «Mit dem Sport sollten sie Einblick in eine andere Gesellschaft erhalten und dennoch einen strukturierten Tagesablauf haben», so Stofer. 

Gedacht, getan: Das Team Ufwind unter der Schirmherrschaft von Werner Ulrich und dem Management von Guido Burri, einem engen Mitarbeiter von Stofer, war geboren. Die Turniere stellten aus zweierlei Hinsicht eine Herausforderung dar. Zum einen setzte Stofer gänzlich auf die behäbig geltenden Freiberger, zum andern waren die Jugendlichen alles andere als herkömmliche Grooms. «Auf den Turnierplätzen waren wir anfänglich schon Exoten», erzählt Stofer lachend. Mit seinen teils tätowierten, gepiercten und farbigen Pflegern fiel der alt 68er in der konventionellen Pferdeszene aus der Reihe. Da ein spöttischer Blick, dort ein belustigender Kommentar, hier ein krummes Lächeln.

Der Weg ins Kader
Den Kritikern konterten Stofer und seine Jungs mit Erfolgen. Vor drei Jahren wurde das Team sogar im SVPS-Kader der Vierspänner aufgenommen. «Das war natürlich eine Riesenfreude», erinnert sich Stofer. Den Transporter gefüllt mit Jugendlichen, Pferden und Kutschen fuhr er nun auch ins Ausland. Von Slowenien über Frankreich – andere Welten für Jugendliche, welche bis anhin kaum über das Luzernerland hinausgekommen sind. Stofer, welcher den Turniersport aus privaten Mitteln selbst finanziert, ist überzeugt: «Dank dem Fahrsport konnten wir bei einigen Jugendlichen Blockaden lösen», betont er.

Druck auszuhalten und mit harter Arbeit zusammen mit den Pferden Erfolge zu erzielen seien wichtige Meilensteine in die Wiedereingliederung der jungen Leute. Für Stofer selbst als Fahrer waren die Turniere indes selten eine Spazierfahrt. Ab und an schwitzte er nicht nur wegen der mentalen und körperlichen Anstrengung. «Klar gab es die eine oder andere brenzlige Situation», sagt er. Beispielsweise bei einem Turnier in Bern, als die Polizei ihn anrief, weil sie zwei seiner Jugendlichen im Coop beim Klauen erwischt hatten. Auf die Schnelle musste er zwei Beifahrer suchen. Oder als er während des Marathons bemerkte, dass ein Jugendlicher die Zahlen verwechselte. «Das erschwert natürlich das Zeitmanagement», so Stofer. 

Rückzug aus dem Spitzensport
Im Oktober nun hat Stofer und sein Team den Rücktritt aus dem Spitzensport erklärt. Wurde ihm die Doppelbelastung als Fahrer und Mentor zu viel? «Nein», stellt Stofer klar. Sicher sei die Fahrerei in den letzten Jahren professioneller geworden und die Aufgaben für die Grooms anspruchsvoller. Dennoch haben vor allem körperliche Gründe zum Rücktritt geführt. «Seit meinem Trainingsunfall vor fünf Monaten habe ich mich nicht mehr vollständig erholt», sagt Stofer. Dazu kommt: Die Härte des internationalen Fahrsports macht dem gebürtigen Bauernsohn zu schaffen. «Für mich ist eine Grenze erreicht, wo ich den Spitzensport meinen Pferden nicht mehr zumuten will», so Stofer.

Künftig will er sich wieder vermehrt auf die Pädagogik konzentrieren. «Mir liegen die Jugendlichen am Herzen», sagt Stofer. So wie beispielsweise Kevin. ­Dieser macht im Moment ein Praktikum als Kleinkinderzieher. Die Chancen auf einen der begehrten Lehrplätze stehen gut. Die Arbeit mit den Kindern erinnert ihn manchmal auch an die Pferde. Geduld sei gefragt, genauso wie Durchsetzungsvermögen. «Da hat es auch schlitzohrige Nicos», sagt er lachend. Und mit denen weiss er mittlerweile genau wie umgehen.

Sarah Forrer

Stiftung zur Förderung von Pferdetherapie

Nach seinem Rücktritt aus dem Spitzensport haben sich Toni Stofer und das Team Ufwind das nächste Ziel gesetzt: Sie wollen eine Stiftung zur Förderung von Pferdetherapien auf die Beine stellen. Stofer schwebt ein Stiftungskapital von rund fünf Millionen Franken vor. Erste Kontakte zu Interessierten stehen bereits. Mit dem Geld sollen Initiativen und Projekte im Bereich Pferdetherapie unterstützt werden. «Während Hippotherapie anerkannt ist und von der Krankenkasse übernommen wird, müssen Pferdetherapien aus eigener Tasche finanziert werden», so Stofer. Dafür gebe es hinreichend Studien, welche die positive Wirkung der Pferde auch bei psychischen Krankheiten bestätigten.

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