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Dossier: Tierschutz & Ethik

Das Projekt «Right Riding»: eine Verschmelzung von Forschung und neuesten Technologien

14 Juli 2020 08:00

Seit Oktober 2019 arbeiten Verhaltensforscherinnen des Kompetenzzentrums des Bundes für landwirtschaftliche Forschung Agroscope bzw. des Schweizer Nationalgestüts und der Universität Bochum an einem internationalen Forschungsprojekt namens «Right Riding», das vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), von der Haldimann-Stiftung und vom deutschen Ministerium für Wirtschaft finanziert wird. Die Studie soll Klarheit darüber schaffen, wie die viel diskutierte Rollkur zu definieren und zu messen ist: Gibt es eine Kopf-Hals-Position, ab der nach einer bestimmten Zeitdauer eindeutig von Hyperflexion, Rollkur bzw. Low-Deep-Round (LDR) gesprochen werden muss? Oder ist dies erst beim buchstäblichen Kontakt von Pferdemaul und Pferdebrust der Fall? Und gibt es eine Möglichkeit, die Kopf-Hals-Position über ein automatisiertes Videosystem zu erfassen, um Stewards und Richter zu entlasten und das Tierwohl zu überprüfen bzw. nachhaltig sicherzustellen?

© Kathrin Kienapfel-Henseleit © Kathrin Kienapfel-Henseleit

Im Zuge der zunehmenden Sensibilisierung der Gesellschaft betreffend Tierwohl werden die Stimmen nach pferdegerechtem Reiten immer lauter, der Pferdesport steht regelmässig in der Kritik. Dies führt vermehrt zur Forderung eines Verbots gewisser Sportdisziplinen bis hin zum Infragestellen des Reitens an sich. Um eine solche Entwicklung abzuwenden, aber auch um allfällige Missstände zu verhindern, ist nun eine objektive Analyse des gerittenen Pferdes hinsichtlich Kopfposition und Wohlbefinden offiziell in Auftrag gegeben worden.

 

Fehlende Beweisführung trotz Rollkurverbot

Pferde in Rollkur zu reiten, ist in der Schweiz als bisher einzigem Land per Gesetz seit 2014 verboten. In der Praxis sind aber nur sehr selten Interventionen der Richter und Stewards vermerkt, denn diese müssen auf Basis der eigenen Einschätzung der Situation und ohne die Möglichkeit einer auch nachträglich nachvollziehbaren Beweisführung handeln. Zudem können sie sich nicht auf einer genügend klaren Definition der zu sanktionierenden Kopf-Hals-Position abstützen.

Im hier vorgestellten Projekt «Right Riding» soll zunächst eine zuverlässige Methode zur Erfassung der über eine Zeit hinweg mehrheitlich genutzten Kopf-Hals-Position entwickelt werden, denn diesbezügliche wissenschaftliche Ergebnisse beim gerittenen Pferd im Feld sind bisher kaum verfügbar. Dafür werden vor der eigentlichen Prüfung auf Abreitplätzen Filmaufnahmen von Pferd-Reiter-Paaren erstellt. Der SVPS hat hierfür in verdankenswerter Weise seine Unterstützung zugesagt und steht seit Projektbeginn in engem Kontakt mit den Forschenden.

 

Dressurprüfungen im Fokus

Vorerst wird hauptsächlich auf Dressurveranstaltungen gefilmt. Dies geschieht nicht, weil nur dort interessante Kopf-Hals-Positionen zu beobachten wären, sondern vielmehr, weil geeignete standardisierte Bedingungen vorliegen, was methodisch sehr hilfreich ist. Die aufgezeichneten Sequenzen werden verhaltensbiologisch und biomechanisch ausgewertet, die Methodik analysiert und die Daten mit ethologischen Indikatoren korreliert. So kann der Grenzwinkel bestimmt werden, ab dem die Pferde über die Zeit mit signifikant erhöhtem Abwehrverhalten reagieren. Ab diesem Grenzwinkel soll dann in der Schweiz von «Rollkur» oder «Hyperflexion» gesprochen werden, was klare Regeln verfügbar macht.

Anhand dieser drei Winkel ist die Kopf-Hals-Position eines Pferdes eindeutig definierbar. Der Winkel bestimmt die Position im Raum, der Winkel gibt die Weite des Genicks an und der Winkel bezeichnet die Höhe des Halses.  © Kathrin Kienapfel-Henseleit Anhand dieser drei Winkel ist die Kopf-Hals-Position eines Pferdes eindeutig definierbar. Der Winkel bestimmt die Position im Raum, der Winkel gibt die Weite des Genicks an und der Winkel bezeichnet die Höhe des Halses. © Kathrin Kienapfel-Henseleit

Datenbasis erarbeiten

Für diesen Projektteil soll die ganze Palette an möglichen Kopf-Hals-Positionen abgebildet werden, von weit vor bis weit hinter der Senkrechten, um eine gute Datenbasis zu erhalten. Hierfür ist die Mithilfe und das Einverständnis der Reiterinnen und Reiter unabdingbar: Sie dürfen sich während der Aufwärmphase von den Forschenden und den Kameras keinesfalls stören lassen, sondern abreiten wie immer. Die Forschenden sind stille Filmer, es kommt in keinem Fall zu einer Einflussnahme in das Geschehen oder zu irgendeiner Wertung des Reitens. Die Videos werden selbstverständlich gemäss Datenschutzbestimmungen behandelt, anonymisiert und niemals mit Namen oder Gesichtern veröffentlicht. Jede Reiterin und jeder Reiter hilft mit seinen Daten bei der Sicherstellung unseres wundervollen Sportes. Sollten zur Dokumentation der Forschungsarbeit einige besonders schöne Ausschnitte von Ritten benötigt werden, wird vorher jeweils bei den betreffenden Pferdesportlerinnen und Pferdesportlern eine Publikationserlaubnis eingeholt.

Der erste Pilottag ging im Februar 2020 am Dressurturnier im NPZ Bern reibungslos über die Bühne: Alle Teilnehmenden liessen sich filmen, und die Unterstützung durch den Veranstalter war hervorragend. Seither konnte aufgrund der Pandemiesituation keinen Veranstaltungen mehr beigewohnt werden.

So nicht - darüber herrscht Einigkeit in der Pferdewelt. Aber was ist mit den Abstufungen dazwischen?  © Kathrin Kienapfel-Henseleit So nicht - darüber herrscht Einigkeit in der Pferdewelt. Aber was ist mit den Abstufungen dazwischen? © Kathrin Kienapfel-Henseleit

Kamerasystem soll Offizielle unterstützen

Ein grosser Teil an Daten für die Entwicklung des automatisierten Kamerasystems wird direkt im Schweizer Nationalgestüt von Agroscope in Avenches (VD) erhoben. Dort erfolgen permanent Aufzeichnungen der täglichen Arbeit der Bereiterinnen und Bereiter, um für die automatische Entwicklung und das «Machine Learning» grosse Datensätze zur Auswertung zur Verfügung zu haben. Dieser Projektteil erfolgt in Zusammenarbeit mit der Humbold-Universität zu Berlin und dem dort ansässigen Forschungsgebiet Computervision. Das Ziel besteht darin, mit einem selbstständig arbeitenden System die automatische Ermittlung der benutzen Kopfposition in Echtzeit zu ermöglichen, um eine objektive Bewertung und lückenlose Dokumentation gewährleisten zu können.

Die Schweiz und speziell die Schweizer Pferdesportlerinnen und -sportler stellen sich mit diesem ehrgeizigen Forschungsprojekt und somit mit innovativem und entschlossenem Handeln einmal mehr unter Beweis, dem hohen Anspruch im Bereich Tierwohl gerecht zu werden. Das Team der Forscherinnen freut sich schon auf die Begegnungen auf dem einen oder anderen Turnier in den nächsten zwei Jahren der Datenaufnahme und allgemein über jedes Interesse am Vorhaben.

Dr. Kathrin Kienapfel-Henseleit
kathrin.kienapfel@agroscope.admin.ch

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