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Der Pferderücken im Fokus

10 September 2019 09:00

Der imposante, grossrahmige Wallach in dunkler Jacke steht am äussersten Ende seiner weitläufigen Weide, kommt jedoch sofort mit ausladenden, geschmeidigen Schritten hergelaufen, als Dr. med. vet. Selma Latif ihn ruft. Ein typisches Beispiel für unsere modernen Sportpferde mit all ihren Stärken und Schwächen, erklärt die SVPS-Disziplintierärztin, die sich auf Sportmedizin und Rehabilitation spezialisiert hat und sich in ihrer beruflichen Tätigkeit sowohl in der Forschung am Tierspital Zürich als auch in ihrer Tierarztpraxis «Rückenlokal» schwerpunktmässig mit dem Pferderücken befasst. Weshalb das so ein brennendes Thema ist, das von vielen Pferdebesitzern und -medizinern unterschätzt wird, erklärt sie im Interview mit dem «Bulletin».

Mit gezielten Handgriffen prüft Dr. med. vet. Selma Latif, ob Empfindlichkeiten oder Bewegungseinschränkungen im Rücken vorhanden sind. (Foto: T. Aklin) Mit gezielten Handgriffen prüft Dr. med. vet. Selma Latif, ob Empfindlichkeiten oder Bewegungseinschränkungen im Rücken vorhanden sind. (Foto: T. Aklin)

Bulletin: Haben tatsächlich so viele Pferde Rückenprobleme, dass man daraus eine eigene Wissenschaft machen kann?

Selma Latif: Der Pferderücken, die biomechanischen Zusammenhänge und die Einflussfaktoren der Rückengesundheit sind wissenschaftlich noch nicht weit erforscht und die Zusammenhänge sehr komplex. Der Sattel spielt eine wichtige Rolle, daneben sind der Reiter selbst und die Reitweise wichtige Komponenten. Und nicht zu unterschätzen sind auch Aspekte wie die Haltung oder der Beschlag. So können zwei Pferde nahezu identische Probleme zeigen, die Ursachen dafür aber jeweils an ganz unterschiedlichen Orten liegen. Das macht das wissenschaftliche Arbeiten enorm schwierig.

 

Weshalb haben heute so viele Pferde Rückenprobleme? Ist das eine «Modeerscheinung»?

Sehr vieles, das im Moment schiefläuft, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass sich die Pferde im Laufe der Zeit von ihrem genetischen Hintergrund her stark verändert haben. Das betrifft nicht nur die Warmblüter, sondern beispielsweise auch die Isländer oder andere bewegungsstarke Rassen. Man züchtet heute grosse, attraktive Bewegungen. Ob im Springen, in der Dressur oder bei den Gangpferden - die Pferde sollen immer beweglicher werden. Diese spektakulären Bewegungen haben physiologisch zur Folge, dass der Bewegungsapparat mehr Bewegung zulassen muss. Das bedeutet konkret, dass das Bindegewebe, also der gesamte passive Halteapparat wie Faszien, Sehnen und Bänder, dehnungsbereiter sein muss. Das bringt eine gewisse «Schwäche» dieser Strukturen mit sich. Wenn diese Strukturen aufgrund ihrer Dehnungsbereitschaft nachgeben, bedeutet dies eine Mehranforderung an Muskeln, Gelenke und Knochen. Die einzigen Strukturen, die diese Überbeweglichkeit auf physiologische Weise beschränken können, sind spezifische Muskelgruppen - und die kann man trainieren.

Kuhlen hinter dem Schulterblatt liefern einen Hinweis auf einen inaktiven Schultergürtel und stehen damit häufig im Zusammenhang mit einer körperlichen Fehlhaltung. (Foto: S. Latif) Kuhlen hinter dem Schulterblatt liefern einen Hinweis auf einen inaktiven Schultergürtel und stehen damit häufig im Zusammenhang mit einer körperlichen Fehlhaltung. (Foto: S. Latif)

Weshalb war das früher nicht problematisch?

Betrachtet man einen Dressur-Championatssieger aus den 1940er-Jahren und vergleicht ihn mit einem modernen Sportpferd, liegen da Welten dazwischen. Mit dem Championatspferd von 1940 müsste man heute gar nicht mehr antreten, man hätte keine Chance. Dennoch war sein Körper aus physiologischer Sicht weniger anfällig, da stabiler.

Aber auch der Reiter ist ein ganz anderer. Früher waren das mehrheitlich drahtige, eher klein gewachsene, militärisch durchtrainierte Männer, die auch in der Dressur in einem springsattelähnlichen Modell ritten. Heute ist die Pferdewelt hingegen geprägt von Reiterinnen, bei denen sich nicht nur die Beckenform, sondern auch der Trainingszustand bzw. die allgemeinen körperlichen Voraussetzungen von jenen der damaligen Reiter unterscheiden. Aus meiner Erfahrung sind viele Reiterinnen ähnlich überbeweglich wie ihre Pferde und deshalb, gerade in der Dressur, angewiesen auf passive Stabilisierungsmassnahmen wie einen möglichst tiefen Sitz und grosse Kniepauschen, damit sie die Bewegung ihres Pferdes aushalten können.

 

Welchen Einfluss hat das auf die Bewegung und die Gesundheit?

Das Pferd verfügt über verschiedene grosse, weitläufige Muskelgruppen wie den langen Rückenmuskel, die Backenmuskeln der Hinterhand oder die Unterhalsmuskulatur. Diese Muskeln sind eigentlich zuständig für die Bewegung: Der Unterhalsmuskel muss die jeweilige Gliedmasse vorführen, der lange Rückenmuskel die Bewegungen der Hinter- und Vorhand koordinieren usw. Diese Muskeln müssen sich also an- und abspannen, um funktionell arbeiten zu können. Das heisst, diese Muskeln können ihre eigentliche Aufgabe nicht wahrnehmen, wenn sie über längere Zeit, beispielsweise während einer Stunde, eine Halteaufgabe übernehmen müssen. Die Haltemuskeln sind ganz andere und deutlich kleinere Strukturen mit einer grossen Ausdauer, um die Wirbelsäule in einer physiologischen Position zu stabilisieren. Eine ebenso wichtige Rolle für die Stabilisierung spielt jedoch der Schultergürtel. Das sind Muskeln, die mithelfen, den vorderen Bereich des Brustkorbs anzuheben. Da das Pferd kein Schlüsselbein hat, ist die Verbindung zwischen Vordergliedmassen und Brustkorb nur über eine Art Schlinge aus Muskeln und Bindegewebe gewährleistet. Je aktiver diese Schlinge von unten drückt, desto höher kommt der Brustkorb. Ist die Schlinge jedoch inaktiv, folgen die Strukturen der Gravitation und hängen tief. Und an genau dieser überbeweglichen Schwachstelle kommt nun noch das Reitergewicht hinzu. Wenn diese Schlinge nicht oder nicht genügend aktiv als Stossdämpfer fungiert, passiert die Stossdämpfung weiter unten in der Gliedmasse, sodass Gelenke, Bänder und Sehnen stark belastet werden.

Unsere überbeweglichen, bindegewebsschwachen Pferde haben ein riesiges Spiel im Brustkorb. Das können gut mal zehn Zentimeter sein! Dieses Spiel mit der Schlingenstruktur tragen zu können, ist um ein Vielfaches anstrengender als früher, als diese Beweglichkeit im Brustkorb noch kaum vorhanden war. Kommt dann noch der enorme Schub aus der Hinterhand der modernen Sportpferde hinzu, wird das vordere Bewegungszentrum stark herausgefordert.

Die schlingenartige Verbindung zwischen Vordergliedmassen und Brustkorb wird als Schultergürtel bezeichnet. Diese Konstruktion aus Bindegewebe und Muskeln soll den Rumpf gegen die Gravitation stabilisieren. (Bild: Vetsuisse-Fakultät, UZH / Haab) Die schlingenartige Verbindung zwischen Vordergliedmassen und Brustkorb wird als Schultergürtel bezeichnet. Diese Konstruktion aus Bindegewebe und Muskeln soll den Rumpf gegen die Gravitation stabilisieren. (Bild: Vetsuisse-Fakultät, UZH / Haab)

Wie kann das Pferd diese Überbeweglichkeit denn stabilisieren?

In der freien Natur reagiert das Pferd mit dem Fluchtmodus: Es streckt den Kopf hoch, blockiert den langen Rückenmuskel und den Unterhals und läuft so über zwei Kilometer in gestrecktem Galopp geradeaus - es ist physisch und psychisch angespannt. Dann bleibt es stehen und senkt den Kopf zum Grasen. Da werden dann nur die passiven Strukturen wie das lange Nacken-Rücken-Band und die Faszien angesprochen. Das darf keine oder kaum Muskelkraft brauchen, denn diese Haltung soll es während vielen Stunden am Tag einnehmen können. Aber das ist keine Dehnungshaltung, wie man sie aus der Reitlehre kennt, sondern eine physische und psychische Entspannungshaltung. Weder das eine noch das andere können wir für das Reiten gebrauchen. Dort wünschen wir uns die psychische Entspannung und die physisch korrekte Anspannung.

Dennoch haben viele Reiter gemerkt, dass die negative Spannung des Fluchtmodus dem hypermobilen Pferd eine gewisse Stabilität gibt. Das passiert nicht nur beim nach oben gestreckten Hals, sondern auch bei einer zwanghaften Überzäumung: In beiden Fällen ist die Halswirbelsäule in einer S-Form, die nur durch Bewegungsmuskeln in dieser Haltung stabilisiert werden kann. Diese Fehlhaltung kann beim Reitpferd längerfristig gesundheitliche Probleme hervorrufen. Insbesondere der Übergang von der Hals- zur Brustwirbelsäule wird übermässig beansprucht und kann sich arthrotisch verändern. Auch in der Brustwirbelsäule sind Kissing Spines, Arthrosen und Spondylosen der Wirbelkörper mögliche Folgen einer fehlerhaften Körperhaltung. All diese krankhaften Veränderungen sind unter dem Strich Versuche des Körpers, Stabilität zu erlangen.

Das Gespräch führte
Cornelia Heimgartner

Medizinische Trainingstherapie: Sobald das Pferd vom Boden aus genügend muskuläre Stabilität erlangt hat, kann die Arbeit unter dem Sattel sukzessive gesteigert werden. (Foto: Ch. Hofmeister) Medizinische Trainingstherapie: Sobald das Pferd vom Boden aus genügend muskuläre Stabilität erlangt hat, kann die Arbeit unter dem Sattel sukzessive gesteigert werden. (Foto: Ch. Hofmeister)

In Teil 2 des Interviews erfahren Sie in der nächsten «Bulletin»-Ausgabe, wie Sie erkennen, ob auch Ihr Pferd körperliche Schwachstellen hat, und wie Sie es rückenschonend trainieren können.
› Der Pferderuecken im Fokus Teil 2

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