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Dossier: Tierschutz & Ethik

«Es ist nicht immer einfach, bisherige ­Überzeugungen über Bord zu werfen»

11 Juli 2022 09:00

Der Begriff «Ethik» nimmt in unserer Gesellschaft zweifellos einen wichtigen Platz ein, auch im Zusammenhang mit dem Pferdesport. Dabei geht es um so zentrale Fragestellungen wie: «Wenn wir positive Handlungen beabsichtigen oder negative Auswirkungen vermeiden wollen, wie können wir dann unser Verhalten anpassen?» «Wenn wir die Auswirkungen einer Entscheidung auf die Interessen der Umgebung (Menschen und Equiden) kennen, was ­sollten wir dann tun be­ziehungsweise unterlassen?» «Was ist weniger missbräuchlich: Nicht so zu handeln, wie man sollte, oder etwas zu tun, was man nicht tun sollte?» 

2011 hatte COFICHEV als Rat und Observatorium der Schweizer Pferdebranche erstmals einige aktuelle ­ethische Fragen analysiert und eine Bestandsaufnahme sowie einen ­Ausblick in die Zukunft veröffentlicht. Die 2022 überarbeitete und erweiterte Ausgabe des Berichts, die erneut unter der Federführung von Pierre-André Poncet als Verantwortlicher und Koordinator der Redaktion entstand, berücksichtigt die jüngsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen.

Der Ethikbericht regt dazu an, sich Gedanken zu machen zu so unterschiedlichen Themen wie dem Jungpferdetraining, dem Lebensende unserer vierbeinigen Sportpartner oder der ganz grundsätzlichen Rechtfertigung der Nutzung von Equiden. Das «Bulletin» sprach darüber mit dem Präsidenten von COFICHEV Charles Trolliet.

Ausreichend Futter, eine saubere Box und regelmässige therapeutische Behandlungen sind noch keine Garantie, dass Würde und Wohlbefinden des Pferdes gesichert sind. | © imago Ausreichend Futter, eine saubere Box und regelmässige therapeutische Behandlungen sind noch keine Garantie, dass Würde und Wohlbefinden des Pferdes gesichert sind. | © imago

«Bulletin»: Charles Trolliet, zwischen der ersten Publikation des COFICHEV-Ethikberichts und der aktuellen Publikation «Ethische Überlegungen zur Würde und zum Wohlergehen von Pferden und anderen Equiden. Wege zu einem besseren Schutz» liegen 11 Jahre. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Charles Trolliet: Im vergangenen Jahrzehnt hat sich insbesondere die Wahrnehmung der Öffentlichkeit rasant verändert. Die Sensibilität für Fragen des Tierwohls ist deutlich gewachsen, und zwar in allen Lebensbereichen. Wo man früher von Tierschutz sprach, stehen heute das Tierwohl und die Tierwürde im Vordergrund. 


Inwiefern unterscheiden sich diese Begriffe voneinander?
Beim Tierschutz geht es in erster Linie darum, dass die Tiere keinen Schaden nehmen: Sie sollen genügend Futter bekommen und dürfen nicht gequält werden usw. 

Das Tierwohl geht da viel weiter: Das Tier soll körperlich und geistig unversehrt sein und darf nicht unnötig belastet werden. Insbesondere müssen die fünf voneinander unabhängigen und unverzichtbaren Freiheiten gewahrt werden: Freiheit von Hunger, Durst und Fehl­ernährung, Freiheit von Unbehagen, Freiheit von Schmerz, Verletzung und Krankheit, Freiheit von Angst und Leiden und Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens.

Bei der ethischen Betrachtung der Frage geht es jedoch nicht darum, diese Freiheiten als Gesetz zu nehmen und jede Einschränkung dieser Freiheiten, jede Belastung, abzulehnen. Vielmehr werden Freiheiten und ihre Einschränkungen bezüglich ihrer Vor- und Nachteile in die Waagschale geworfen, um in jeder Situation eine akzeptable Lösung zu finden. Nehmen wir ein Beispiel: Die Kastration eines Hengstes stellt grundsätzlich einen Eingriff in die Würde des Pferdes dar und wäre daher abzulehnen. Doch dank der Kastration wird der Umgang mit dem Tier sicherer, und er ermöglicht ihm ein artgerechteres Leben mit mehr Sozialkontakten. Insofern ist die fachgerechte Kastration des Hengstes ein Gewinn für dessen Wohlbefinden und daher akzeptabel.

 

Woran können wir denn erkennen, ob das Wohlergehen unserer Pferde gewährleistet oder eben beeinträchtigt ist?

Es ist nicht immer einfach, dies zu erkennen – schliesslich sprechen Mensch und Pferd nicht dieselbe Sprache. Pferde kommunizieren stark über die Körpersprache, die Mimik. Da braucht es einige Erfahrung und insbesondere auch Zeit, um die Pferde über einen gewissen Zeitraum zu beobachten. Die Wissenschaft hat sich in den letzten zehn Jahren intensiv mit dieser Thematik befasst und wichtige Erkenntnisse gewonnen. So entstand beispielsweise das Ridden Horse Pain Ethogram (RHpE) der britischen Veterinärmedizinerin Dr. Sue Dyson. Es handelt sich hierbei um einen Katalog von 24 Verhaltensmerkmalen, die als Zeichen von Schmerz beim gerittenen Pferd gelten. Werden acht oder mehr dieser Verhaltensmerkmale bei einem Pferd be­obachtet, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dieses Pferd Schmerzen in den Muskeln und/oder im Skelett hat. Wenn das Pferd einmal kurz die Ohren anlegt oder einmal mit dem Schweif schlägt, ist das sicher nicht problematisch. Hält das Verhalten aber über längere Zeit an, muss man genauer hinschauen.

Ein solches Ethogramm ist nicht in erster Linie ein Instrument für Offizielle auf dem Abreitplatz, denn man muss jedes Pferd individuell über mehrere Minuten intensiv beobachten. Das kann ein einzelner Steward schlicht nicht leisten. Hier liegt die Verantwortung vielmehr bei den Pferdesporttreibenden selbst sowie bei deren Trainerinnen und Trainern. Sie verbringen viele Stunden mit demselben Pferd und sollten sein Verhalten stets im Hinblick auf sein Wohlergehen analysieren.

 

Werden solche neuen wissenschaft­lichen Erkenntnisse bezüglich des Pferdewohls heute genügend berücksichtigt?

Es hat sich in der Verhaltensforschung beim Pferd in den letzten Jahren enorm viel getan, und es gibt laufend neue Erkenntnisse. Manche Pferdemenschen nehmen diese offen und mit grossem Interesse an, bei anderen stossen sie auf Widerstand. Es ist nicht immer einfach, sich selbst infrage zu stellen und neue Herangehensweisen zu erproben. Man hört immer wieder: «Das haben wir schon immer so gemacht!» oder «Das war schon bei den Alten Meistern richtig!» Damit tut man dem Pferd unter Umständen aber Unrecht, denn die Wissenschaft ist heute einfach an einem anderen Punkt, auch wenn es nicht immer einfach ist, bisherige Überzeugungen über Bord zu werfen oder zumindest zu hinterfragen.

Viele Pferdemenschen, egal ob im Profisport, im Breitensport oder auch im Freizeitbereich, sind heute noch der Auffassung, dass wenn das Pferd genügend Futter, eine schöne Box und bei Bedarf eine tierärztliche Behandlung bekommt, das Tierwohl gesichert ist. Diese Sichtweise geht aber nicht weit genug.

Wir müssen aber aufpassen, dass wir das Wohlergehen von Mensch und Tier nicht gleichstellen. Das sind zwei verschiedene Spezies mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen. So können die Unterbeschäftigung genauso wie die Überforderung, die übertriebene Pflege genauso wie die Behandlung als Sportgerät, die ungünstige Konstellation im Offenstall genauso wie die Isolation in der Innenboxe den Pferden auf das Gemüt schlagen und schliesslich auch körperliche Konsequenzen haben. Uns Menschen mag es gefallen, einen ganzen Tag mit einem guten Buch auf dem Sofa zu verbringen – Pferde aber brauchen viel Bewegung. Wir Menschen geniessen ein duftendes Bad – Pferde hingegen freuen sich über Fellpflege mit Artgenossen. Wir möchten im Hotel gerne ein Einzelzimmer – Pferde hingegen brauchen zumindest Sicht- und Geruchskontakt zu Artgenossen.

Mit Augenmass: Hygiene muss sein, aber allzu ausgiebiges Putzen kann für das Pferd zur Belastung werden. Es bevorzugt die soziale Fellpflege unter seinesgleichen. | © Pixabay Mit Augenmass: Hygiene muss sein, aber allzu ausgiebiges Putzen kann für das Pferd zur Belastung werden. Es bevorzugt die soziale Fellpflege unter seinesgleichen. | © Pixabay

Worauf können Pferdesporttreibende und ihre Trainerinnen und Trainer noch achten in Bezug auf das Pferdewohl?

Das Lernverhalten von Pferden ist ein weiteres Forschungsgebiet, das für Pferdesporttreibende und ihre Trainerinnen und Trainer von grosser Bedeutung ist. Die Wissenschaft steht hier noch am Anfang, aber die Erkenntnisse und die Erfolge bei ihrer praktischen Umsetzung sind zukunftsweisend.

Wir müssen davon wegkommen, Pferde «abrichten» zu wollen. Es geht in der Pferdeausbildung nicht darum, ihnen einfach gewisse erwünschte Verhaltensweisen aufzudrücken. Vielmehr müssen die Pferde bei jeder Übung nachvollziehen können, was von ihnen verlangt wird, und korrektes Verhalten sollte entsprechend belohnt werden. Diese Pädagogik geht über das Körperliche hinaus und trägt insbesondere auch der geistigen Komponente Rechnung. Wir wollen keine Marionetten, die abgestumpft Befehle ausführen. Pferde sollen vielmehr als denkende und fühlende Wesen in den Lernprozess integriert werden.

 

Was bedeutet das in Bezug auf das Jungpferdetraining?

Gerade bei den Jungpferden ist die mentale Komponente immens wichtig. Man weiss heute, dass fachgerechtes Training im jungen Alter den Körper stärkt und Pferde auf lange Sicht leistungsfähiger macht als ein später Trainingsbeginn. Mal abgesehen davon, dass es frühreife und spätreife Rassen gibt, ist aber insbesondere auch die mentale Reife entscheidend. Die Ausbildung kann früh, dafür in aller Ruhe in Angriff genommen werden. Das Pferd als Individuum mit seinen mentalen und körperlichen Möglichkeiten und Grenzen gibt dabei den Rhythmus vor. Neben dem eigentlichen Training und auch schon davor spielt aber auch die geeignete Haltung unter Berücksichtigung seiner natürlichen Bedürfnisse eine zentrale Rolle, um Körper und Geist gesund zu halten.

Das gilt im Übrigen nicht nur für Jungpferde, sondern auch für Pferde in den besten Jahren und für alte Pferde.

Schlägt das Pferd einmal mit dem Schweif, ist das sicher unproblematisch. Wird das Verhalten jedoch zum Dauerthema - insbesondere unter dem Reiter - müssen Trainer und Pferdebesitzer genauer hinschauen. | © imago Schlägt das Pferd einmal mit dem Schweif, ist das sicher unproblematisch. Wird das Verhalten jedoch zum Dauerthema - insbesondere unter dem Reiter - müssen Trainer und Pferdebesitzer genauer hinschauen. | © imago

Die Thematik des alternden Pferdes wird im Ethikbericht ebenfalls ausführlich besprochen. Wo liegen hier die Herausforderungen?

Die Herausforderungen rund um das alternde Pferd sind vielschichtig. Man kann sie wohl darin zusammenfassen, dass auch sie Anrecht auf die eingangs erwähnten fünf Freiheiten haben. Die Veterinärmedizin hat im Bereich der Lebensverlängerung beim Pferd enorme Fortschritte gemacht. Vieles ist heute möglich, aber ist das auch immer ethisch vertretbar? Nehmen wir die Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens: Ist es in Ordnung, wenn sich ein Pferd nur noch ganz langsam im Schritt bewegen kann und deshalb nicht mehr mit seinen Artgenossen auf die Weide kann, weil diese sich zu schnell bewegen? Ist das aus Sicht des Pferdes als Fluchttier noch stressfrei und lebenswert, oder ist das eher eine egoistische Haltung des Menschen, der sich nicht von seinem vierbeinigen Freund trennen kann?

Aber auch schon früher, wenn das Pferd aus dem «aktiven Leben» ausscheidet, also nicht mehr für Sportaktivitäten genutzt werden kann, stellt sich die Frage: Welche Haltungsform ist nun ethisch vertretbar? Gerade ehemalige Sportpferde, die während ihrer aktiven Zeit kaum Sozialkontakt zu Artgenossen hatten und einzeln auf kleinen Grasflächen ihre kurze Weidezeit verbrachten, sollen nach der «Pensionierung» plötzlich auf eine grosse Altersweide, wo sie «Pferd sein» können. Ist das fair? Diese Pferde haben oft Mühe, sich in ein soziales Gefüge einzuleben und das «Pferdsein» ist mit grossem Stress verbunden – sie sind beispielsweise isoliert oder aber aggressiv aus reiner Überforderung mit der Situation. Da stellt sich aus ethischer Sicht die Frage, ob man nicht schon in der aktiven Zeit das etwas grössere Verletzungsrisiko eines Weidegangs mit Artgenossen in Kauf nehmen sollte, um ihnen das Leben nach der «Sportkarriere» zu erleichtern. Oder aber im Gegenteil, man behält die Pferde auch nach der Pensionierung im gewohnten Umfeld und passt die Anforderungen seinen Möglichkeiten an: Ausritte und Spaziergänge statt Trainings und Turniere, mit den gewohnten Menschen und der üblichen Pflege wie in all den guten Jahren. Und wenn der Körper dann gar nicht mehr kann, dann muss man als Mensch auch seine Verantwortung wahrnehmen und das Pferd erlösen, wenn die Lebensqualität nicht mehr den ureigenen Bedürfnissen des Pferdes entspricht.

 

Zu welchem Schluss kommt COFICHEV im aktuellen Bericht: Ist die Nutzung von Pferden ethisch vertretbar?

Das Pferd begleitet den Menschen seit Tausenden von Jahren. Im Laufe der Zeit wurden die Bedürfnisse der Pferde immer besser erforscht und berücksichtigt. Wenn wir heute von Pferdewohl sprechen können, dann weil wir in einer Gesellschaft leben, in der es dem Menschen sehr gut geht – das dürfen wir nicht vergessen.

Wir müssen uns bewusst sein, dass wenn wir das Pferd nicht mehr nutzen, die Spezies aussterben würde. Denn als Nutzung gilt unter dem Strich jede Art von Belastung des Pferdes, also jede Art der Einschränkung seiner Freiheiten. Da würde schon ein Zaun um eine Wiese eine Einschränkung bedeuten. Und in unserer heutigen Welt ist eine Auswilderung von Pferden in unseren Breitengraden schlicht undenkbar.

In diesem Sinne befürwortet COFICHEV die Nutzung von Equiden, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Jeder Eingriff in ihre Freiheiten muss durch gerechtfertigte Vorteile aufgewogen werden. Und wir Menschen müssen offenbleiben, neue Erkenntnisse anzunehmen und unser Verhalten entsprechend anzupassen. Zum Wohle der Pferde.


Das Gespräch führte
Cornelia Heimgartner

 

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