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Gymnastik für das Pferd: Die vergessenen Wurzeln der Hufschlag­figuren

18 Februar 2016 11:38

Volten, Schlangenlinien, Rückwärtsrichten – jeder Reiter kennt diese Lektionen und «paukt» sie im Unterricht immer wieder. Doch weshalb haben diese jahrhundertealten Hufschlagfiguren eigentlich nach wie vor ihre Berechtigung? Und warum sind sie auch für den Springsport oder den Patrouillenritt von grosser Bedeutung?

Mangelnde Geraderichtung: Das Pferd liegt wie ein Eisschnellläufer in die Kurve. Mangelnde Geraderichtung: Das Pferd liegt wie ein Eisschnellläufer in die Kurve.

Sie sind Teil der offiziellen Dressurprogramme und oftmals reitet man sie, ohne sich Gedanken zu machen, weshalb man gerade die eine und nicht eine andere Hufschlag­figur reitet. Doch diese Lektionen sind keine reinen Gehorsamsübungen! Sie sind vielmehr altbewährte Trainingselemente, die der Gymnastizierung und Kräftigung des Pferdes dienen und so die unverzichtbare Grundlage bilden für gesundheitsschonendes Reiten – in jeder Sparte. 

Die Volte
Es scheint auf den ersten Blick banal und unspektakulär, einen Kreis zu reiten. In Wirklichkeit ist die Volte aber eine anspruchsvolle Grundübung und ein Prüfstein des Ausbildungsstands zugleich. Meist gelingt der Bogen nicht ganz rund, das Pferd drückt auf die eine Hand nach innen und driftet auf die andere Hand nach aussen weg. Das ist der Ausdruck der natürlichen Schiefe des Pferdes, denn es lässt sich von Natur aus auf die eine Seite besser biegen als auf die andere. Diesem Phänomen will man mit dem Geraderichten der Skala der Ausbildung begegnen – denn bleibt das Pferd ein Leben lang schief, kann es aufgrund der ungleichen Belastung der Muskeln und Gelenke bald Verspannungen und Verletzungen aufweisen.

Die Volte dient also der Gymnastizierung des Pferdes, das heisst, sie wird als Dehnungsübung eingesetzt, damit das Pferd sich auf rechte und auf linke Hand gleich gut biegen kann; man spricht von der Längsbiegung des Pferdes. Sie hilft dem Pferd, sein Gleichgewicht zu finden und in jeder Wendung – sei es in der Ecke der Reithalle, der Kurve auf dem Waldweg oder der steilen Wendung im Springparcours – das eigene Gewicht und das Gewicht des Reiters so zu tragen, dass keine Überbelastung entsteht.

Wie bei jeder Dehnungsübung muss man dem Pferd Zeit geben, sich an diese Anforderung zu gewöhnen. Muskeln, Bänder und Sehnen müssen sich langsam der perfekten Rundung des Zirkels annähern können, ohne sich dabei zu verspannen. Mit zunehmender Gymnastizierung wird das Pferd nicht mehr wie ein Eisschnellläufer in die Kurve liegen. Es fällt nicht mehr auf die eine oder andere Schulter und kann die Volte aus eigener Kraft und ohne Gleichgewichtsverlust kreisrund machen. Das bedeutet, seine natürliche Schiefe wurde korrigiert – denn Geraderichten hat nichts mit Geradeausgehen zu tun.

Nun kann auch das jeweils innere Hinterbein richtig unter den Bauch in den Körperschwerpunkt treten. Dadurch wird die Hinterhand gekräftigt und auf die Versammlung als Höhepunkt der Ausbildungsskala vorbereitet.
Zur Lektionen-Familie der gebogenen Linien, die der Erarbeitung von Gleichgewicht und Geraderichtung dienen, gehören auch das Schultervor bzw. Schulterherein und die Schlangenlinien. Gerade an den Schlangenlinien durch die Bahn lässt sich sehr gut erkennen, wie weit Pferd und Reiter in ihrer Ausbildung fortgeschritten sind. Ihre gymnastizierende Wirkung kommt vor allem bei der klassischen, geschwungenen Ausführung der Schlangenlinien zum Ausdruck, da sie dann eine Aneinanderreihung von kleinen Volten sind und beim Wechsel von einem Bogen zum nächsten auf der Mittellinie eine stärkere Biegung der Längsachse verlangt wird als bei der heute in Prüfungen üblichen geraden Form der Schlangenlinie.

Die kreisrunde Volte, die durch die gesamte Längsachse des geschmeidigen Pferdekörpers geht, ist schliesslich der Grundstein für beispielsweise Traversalen und Pirouetten. Klappen diese Lektionen nicht wunschgemäss, ist es meist notwendig, bis zur Volte zurückzugehen und an ihrer Ausführung zu arbeiten, bevor man wieder an die schweren Übungen herangeht.

Das Schrittreiten
Renommierte Ausbildner betonen immer wieder, dass man den Schritt nicht trainieren, sondern nur erhalten kann. Das klingt ganz simpel und wenn in Dressurprüfungen tiefe Noten für den Schritt vergeben werden, wird dies nur allzu gerne auf die mangelnde Grundqualität des Pferdes geschoben.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Vielmehr ist der Schritt die wohl ehrlichste Lektion überhaupt, da hier nicht über körperliche Schwächen des Pferdes oder Ausbildungsmängel hinweggetäuscht werden kann. Taktfehler im Schritt, wie der oft gesehene Passgang, sind Ausdruck von fehlender Losgelassenheit des Pferdes. Diese kann viele Ursachen haben, vom mentalen Stress der Turniersituation über ein Unwohlsein durch einen schlecht sitzenden Sattel bis hin zu ernsthaften körperlichen Schmerzen. Auch wenn diese Taktfehler im Schritt nur unter dem Reiter auftreten, sind sie sehr ernst zu nehmen und gehören vom Spezialisten abgeklärt.
Neben dem Takt sind die Anlehnung und Dehnung weitere zentrale Elemente des Schrittreitens. Denn nur wenn das Pferd mit Lektionen auf gebogenen Linien ausreichend gymnastiziert wurde, ist es in der Lage, sich im Schritt vertrauensvoll an die Hand des Reiters heranzudehnen, ohne dabei die eigene Körperbalance zu verlieren, und so eine konstante, feine Anlehnung anzubieten.

Besonders wichtig ist, dass auch beim Schrittreiten mit Rahmenerweiterung – also mit verlängertem Zügelmass – ein positiver Spannungsbogen der Oberlinie erhalten bleibt. Das heisst, das Pferd trägt sich selbst: Es drückt nicht gegen die Reiterhand oder im Gegenteil versucht nicht, den Kontakt zur Reiterhand hinter der Senkrechten zu vermeiden. Nur unter dieser Voraussetzung wird das Reitergewicht gleichmässig über den gesamten Trageapparat des Pferdes verteilt. 

Das Schrittreiten ist also ein Gradmesser für die mentale und körperliche Gesundheit des Pferdes und darf in seiner Anforderung an das Pferd nicht unterschätzt werden. Gerade auch Freizeitpferde, die oft lange im Schritt im Gelände unterwegs sind, müssen lernen, in dieser scheinbar gemütlichen Gangart ihren Reiter zu tragen, ohne sich auf Dauer zu sehr abzunutzen. Das ist durchaus schon eine hohe Leistung!

«Zügel aus der Hand kauen»
Was bei manchem gut ausgebildeten Pferd ganz locker und einfach aussieht, ist in Tat und Wahrheit ein weiterer Meilenstein der Grundgymnastizierung, die jedes Reitpferd zur Gesunderhaltung braucht. Beim «Zügel aus der Hand kauen» wird dem Pferd im Trab oder Galopp nach und nach mehr Kopffreiheit gegeben, die es fein und stetig kauend annimmt, um seinen Rahmen zu erweitern. 

Diese Übung dient zum einen der Überprüfung, ob das Pferd auch ehrlich an den Hilfen steht und auch bei längerem Zügelmass weder eilig noch langsam wird oder gar ob der neuen Freiheit dankend den Kopf schüttelt, wenn die Reiterhand davor zu hart einwirkte. Wird die Lektion auf gebogenen Linien geritten, zeigt sich ausserdem, ob das Pferd auch wirklich eine beidseitig gleichmässige Biegung der Längsachse ohne Gleichgewichtsverlust beibehalten kann, wenn die Unterstützung durch die Reiterhand aufgrund der längeren Zügel schwächer wird. Reisst das Pferd dem Reiter die Zügel aus der Hand oder verkriecht es sich bei durchhängendem Zügel hinter der Senkrechten, muss weiter an der Geraderichtung des Pferdes auf gebogenen Linien gearbeitet werden.

Zum anderen wird hier auch an der Kräftigung des gesamten Trageapparats des Pferdes gearbeitet. Dabei gilt es erneut zu beachten, dass der positive Spannungsbogen der Oberlinie nicht verlorengeht! Der Rücken muss sich mit jedem Trabtritt oder Galoppsprung elastisch aufwölben, damit die Hinterhand unter den Bauch in den Körperschwerpunkt treten kann. Denn man darf nicht vergessen, dass mit dem tiefer getragenen Kopf, der bei dieser Lektion verlangt wird, der Massenschwerpunkt weiter nach vorne verlagert wird. Damit dies nicht in einer Überbelastung der Vorhand endet, muss also die Hinterhand aktiv entgegenwirken. Es muss über den gesamten Pferderücken ein schwingender Bogen gespannt werden, der diese zusätzlichen Kräfte abfängt. Das «Zügel aus der Hand kauen» stellt richtig ausgeführt also hohe Anforderungen an Kraft und Koordination und sollte deshalb mit kurzen Sequenzen, die langsam länger werden, sorgfältig aufgebaut werden. 

Das Rückwärtsrichten
Da steht man auf dem engen Waldweg plötzlich vor einem umgefallenen Baum – an Umkehren ist nicht zu denken, da hilft nur Rückwärtsgehen. Auch im Springparcours beobachtet man oft, dass Reiter ihr Pferd vor dem Start ein paar Schritte rückwärtsrichten, bevor sie das erste Hindernis anvisieren. Und nicht umsonst wird diese Lektion in der Dressur bis zum Grand Prix verlangt!
Vielen Reitern scheint das Rückwärtsrichten die Gehorsamsübung par excellence zu sein.

Es stimmt, dass diese Lektion ein Prüfstein für die Durchlässigkeit des Pferdes ist. Sie ist auch ein Vertrauensbeweis, denn als Flucht- und Beutetier geht das Pferd von sich aus nur in Extremsituationen rückwärts. Man würde dieser ganzheitlichen und anspruchsvollen Übung jedoch nicht gerecht werden, wenn man ihre Funktion auf den Gehorsam reduzierte. Tatsächlich hat sie – korrekt ausgeführt – auch grosse Bedeutung für die Gymnastizierung und Kräftigung des Pferdes.
Anders als der Schritt hat das Rückwärtsrichten wie der Trab eine diagonale Fussfolge. Dies ist ein wichtiger Hinweis auf die Grundfunktion dieser Lektion: Damit das Rückwärtsrichten nicht schief wird oder Fehler in der Anlehnung passieren, muss das Ausbildungsziel der Geraderichtung anhand von gymnastizierenden Übungen auf gebogenen Linien erfüllt sein.

Wird das Rückwärtsrichten nur als Gehorsamsübung missverstanden, äussert sich das oft in kriechendem «Rückwärtsschlurfen» – sei es bei noch so hohem Tempo. Bei der korrekten Ausführung muss das Pferd bei jedem Rückwärtstritt die Hinterbeine anwinkeln und vermehrt Last aufnehmen. Es kann schon fast der Eindruck entstehen, das Pferd setzt sich hin. Noch grösser ist die Kraftanstrengung bei der Schaukel, wenn das Pferd aus dem Rückwärtsrichten also fliessend in den Trab oder gar Galopp einspringen soll. 

Durch das langsame Aufbauen des Rückwärtsrichtens mit immer mehr Tritten wird die Koordination geschult und die Hinterhand gekräftigt, was wiederum als Vorbereitung für schwere Übungen wie Passage oder Piaffe dient, aber auch ganz grundsätzlich für die Gesunderhaltung des Reitpferdes zentral ist. Unter diesem Aspekt ist auch das Rückwärtsrichten vor Beginn des Springparcours zu betrachten: Es bezweckt nicht allein die Überprüfung des Gehorsams, sondern soll dem Pferd noch einmal den Weg zur Hinterhand weisen und die Vorhand entlasten, damit das Pferd am Sprung und zwischen den Hindernissen mehr Gleichgewicht hat und effizienter arbeiten kann.

Hufschlagfiguren sind für alle da
Auch wer nicht an Prüfungen der Dressur oder Working Equitation teilnimmt, sollte sich mit der Grundidee hinter den einzelnen Hufschlagfiguren auseinandersetzen. Werden sie nicht einfach nur gedankenlos abgespult, sondern den Bedürfnissen und dem Ausbildungsstand des Pferdes entsprechend eingesetzt, sind sie effiziente Werkzeuge für eine harmonische Verbindung zwischen Pferd und Reiter. Fühlt sich ein Pferd den gestellten Aufgaben gewachsen, wird es willig und losgelassen mitarbeiten. So werden Verspannungen, Schmerzen und Verletzungen vermieden. Und ein Pferd, das sich in seiner Haut wohl fühlt, ist eine Lebensversicherung – ob im Geländeparcours oder im Horseathlon.

Cornelia Heimgartner

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