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Neuroathletik: Bewegung beginnt im Gehirn

23 August 2021 09:45

Reiten gehört zu den komplexesten Sportarten überhaupt. Wie man die Kommunikation zwischen Nervensystem und Bewegungsapparat verbessern kann, hat weder mit Muskelkraft noch mit Mentaltraining zu tun - das ist Neuroathletik.

Im Fussball oder in der Leichtathletik wird das Nervensystem als zentrales Element der Bewegungssteuerung längst ins Training mit einbezogen, mit durchschlagendem Erfolg! Im Reitsport tut man sich hingegen noch schwer, das Gehirn als Schaltzentrale der Bewegung zu berücksichtigen, und dies, obwohl Reiterinnen und Reiter auf dem Pferd koordinative Höchstleistungen erbringen müssen. Was tiefe Fersen mit einem Metronom und passende Distanzen mit Schielen zu tun haben, das erklärt die Neuroathletik.

Will es mit der tiefen Ferse beim Reiten einfach nicht klappen? Augenübungen können helfen! (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner) Will es mit der tiefen Ferse beim Reiten einfach nicht klappen? Augenübungen können helfen! (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner)

Die Landkarte im Kopf

Was genau passiert eigentlich in unserem Körper, wenn wir unser Pferd aus dem Trab angaloppieren? Wir geben dem Pferd mit der inneren Hand Stellung, das äussere Bein geht leicht zurück, während das innere am Gurt bleibt, das Pferd springt ein und wechselt von einem diagonalen Zweitakt in einen schnelleren Dreitakt. Und das alles innerhalb von Sekundenbruchteilen.

Diese auf den ersten Blick banale Situation zeigt, wie komplex die Abläufe im Reitsport sind. Damit die Reiterin aber auch wirklich jeden Körperteil einzeln und gezielt ansprechen kann, braucht er nicht nur eine gute allgemeine Fitness, sondern auch eine hervorragende Koordination, ein stabiles Gleichgewicht und einen gut ausgebildeten Orientierungssinn, um das Pferd und das Umfeld im Auge behalten zu können.

Damit all das reibungslos klappt, sollte der Reiter eine möglichst lückenlose «Landkarte» seines Körpers im Gehirn aufweisen. Denn oft ist es so, dass man zwar weiss, welche Bewegung man ausführen soll, trotzdem will sie aber nicht recht gelingen. Das muss nicht an der körperlichen Fitness liegen, sondern hat oft damit zu tun, dass unser Gehirn gewisse Körperteile nicht richtig ansprechen kann oder man im Gehirn ein falsches Bild des eigenen Körpers abgespeichert hat. Die Bewegungstrainerin und Neuroathletik-Expertin für Reiter Claudia Butry erklärt es so: «Wenn wir beispielsweise verletzt sind und ein Körperteil ruhiggestellt wird, löscht das Gehirn diesen Körperteil von seiner Landkarte. Er wird nicht gebraucht, also soll er auch nicht Ressourcen beanspruchen. Wenn der Körperteil wieder gesund ist, wird er vom Gehirn aber nicht zwingend wieder vollumfänglich auf die Landkarte aufgenommen - der Bereich bleibt ‹unscharf›. Das weiss man heute aus der Neurologie, der Wissenschaft der Nervensysteme.»

Solche unscharfen Bereiche können dann bei der Bewegungsplanung nicht genau angesprochen werden, die Bewegungen sind unpräzise - egal, wie oft man sie wiederholt. Um das Gehirn wieder auf diesen Körperbereich aufmerksam zu machen, diesen «Landkartenabschnitt» genauer zu zeichnen, muss man die Sprache des Gehirns sprechen und mittels spezifischer Übungen neue Anreize schaffen.

Balanceübungen aller Art aktivieren den Vestibularapparat im Innenohr. (Foto: SVPS­/Cornelia Heimgartner) Balanceübungen aller Art aktivieren den Vestibularapparat im Innenohr. (Foto: SVPS­/Cornelia Heimgartner)

So funktioniert unser Gehirn

Unsere Schaltzentrale im Kopf läuft im Dauerbetrieb und verarbeitet Informationen, die von aussen wahrgenommen werden (sogenannte «Inputs»), zu einer Reaktion im Körper (sogenannte «Outputs»).

Zu den Inputgebern, die für die Bewegungsplanung essenziell sind, gehören das visuelle System (die Augen), der Vestibularapparat (Gleichgewichtsorgan im Innenohr) und das propriozeptive System (die Propriozeption ist die räumliche Wahrnehmung unseres Körpers: Wo befindet sich welches Gelenk, welcher Muskel usw.?).

Diese Inputs werden im Gehirn verarbeitet und entsprechend Entscheidungen getroffen. Das oberste Entscheidungskriterium für das Gehirn ist dabei immer die Frage: «Ist das sicher?» Denn das Überleben ist das höchste Bedürfnis des Menschen, daran hat sich in all den Jahrtausenden der Evolution nichts geändert.

Der wichtigste Output für das Gehirn ist also, die Sicherheit des Menschen zu gewährleisten. Wenn beim Reiter im Springparcours aus dem Input also beispielsweise nicht klar ersichtlich ist, was sich unscharf am Horizont bewegt, wird das Gehirn seine Ressourcen in erster Linie dafür einsetzen, diesen für ihn lebenswichtigen Bereich besser zu interpretieren - es könnte dort ja ein Feind lauern. Für stilistische Details in der Bewegung des Reiters ist dann kaum noch Raum. Aber auch Mängel beim Gleichgewichtsinput können verhindern, dass beispielsweise in der Dressur das Gehirn klare Informationen zu einem schönen langen Bein gibt. Denn fehlendes Gleichgewicht wird als lebensbedrohlich eingestuft, weshalb sich die Outputs hierauf konzentrieren werden, statt die Fersen tiefer zu tragen.

Claudia Butry im Einbeinstand. Gleichgewichtsübungen stimulieren das Gehirn und verbessern das Reitgefühl. (Foto: Jens Kerick) Claudia Butry im Einbeinstand. Gleichgewichtsübungen stimulieren das Gehirn und verbessern das Reitgefühl. (Foto: Jens Kerick)

Neurozentriertes Training

Wie also können wir das Sicherheitsgefühl unseres Gehirns stärken, und welche Elemente spielen hier hinein? Aus der Neurologie weiss man heute, dass das visuelle System mit 65% der Inputs die wichtigste Informationsquelle für das Gehirn ist, gefolgt vom Gleichgewichtssystem mit 20% und dem propriozeptiven System mit 15%.

Wenn wir also tagein, tagaus Kraft und Ausdauer, vielleicht sogar noch das Gleichgewicht trainieren, dann machen wir zwar sicher nichts falsch, lassen aber eine noch viel wichtigere Ressource ausser Acht. Im sogenannten neurozentrierten Training, oder der Neuroathletik, wird genau diesem Umstand Rechnung getragen.

Was auf den ersten Blick logisch und einfach erscheint, ist bei genauerer Betrachtung hoch komplex. Denn das Gehirn besteht aus 120 Milliarden Nervenzellen, die miteinander kommunizieren, um Bewegungen ausführen zu können. Und jede Sportart hat ihre eigenen Bewegungen, die ganz spezifische Anforderungen an das Gehirn stellen. Das Reiten gehört in diesem Zusammenhang zu den komplexesten Prozessen, die man sich überhaupt vorstellen kann.

Claudia Butry hat sich auf die Neuroathletik von Reitern, das sogenannte «NeuroRiding» spezialisiert und stellt bei ihrer täglichen Arbeit immer wieder fest, dass manche Reiterinnen und Reiter trotz intensivem Körpertraining nicht den gewünschten Erfolg erzielen: «Wenn ich meine Reitschüler beobachte und offensichtlich körperliche Schwachstellen erkenne, versuche ich zunächst, die Leistung mit Übungen aus dem Bewegungstraining zu verbessern. Wenn mich das Resultat dann noch immer nicht überzeugt, nutze ich neurozentriertes Training. Damit habe ich eigentlich immer Erfolg!»

Die Erfahrung der NeuroRiding-Expertin zeigt, dass das Gleichgewicht vieler Reiterinnen und Reiter ungenügend ist und sie als Folge davon Sitzfehler machen. Diese kann das Gehirn jedoch nicht nachhaltig korrigieren - es fehlen die Ressourcen dafür, da das mangelnde Gleichgewicht den «Sicherheitsoutput» beansprucht. Claudia Butry empfiehlt: «Machen Sie den Test selbst: Steigen Sie vom Pferd und stellen Sie sich mit geschlossenen Augen auf ein Bein. Ist es wackelig? Dann wiederholen Sie dieselbe Übung einmal und lassen gleichzeitig ein Metronom mit beispielsweise 60 bpm laufen. Sie werden sehen, das klappt gleich viel besser, denn bei vielen Menschen mag das Gleichgewichtsorgan im Innenohr Rhythmus!» Zurück im Sattel, wird man den Unterschied gleich merken - nicht zwingend durch ein spürbar besseres Gleichgewicht, aber beispielsweise durch einen tieferen Sitz, denn das Gehirn hat nun Ressourcen für diese «kosmetische» Veränderung der Körperhaltung.

Augenübungen aktivieren Gehirnareale, die unter anderem für den Bewegungsumfang, die Präzision der Bewegung und die Spannung der Haltemuskulatur zuständig sind. (Foto: Jens Kerick) Augenübungen aktivieren Gehirnareale, die unter anderem für den Bewegungsumfang, die Präzision der Bewegung und die Spannung der Haltemuskulatur zuständig sind. (Foto: Jens Kerick)

Mit Adleraugen im Sattel

Wie wir nun wissen, werden nahezu alle Bewegungen über die visuelle Wahrnehmung koordiniert. Über dreissig Gehirnareale sind an der Aufnahme, Verarbeitung und Auswertung von visuellen Informationen beteiligt.

Für das neurozentrierte Training bedeutet das, dass Augenübungen Gehirnareale aktivieren, die unter anderem für den Bewegungsumfang, die Präzision der Bewegung und die Spannung der Haltemuskulatur zuständig sind.

Claudia Butry erklärt: «Reiterinnen und Reiter profitieren enorm von Übungen, die das visuelle System aktivieren. Ein Beispiel sind sogenannte ‹Bleistiftliegestütze›. Halten Sie dafür einfach einen Bleistift etwa in Nasenhöhe auf Armlänge Abstand senkrecht vor sich und fokussieren Sie die Schärfe Ihres Blicks darauf. Nun nähern Sie sich zügig mit dem Bleistift der Nasenspitze an, bis Sie schielen, aber nur so weit, dass die Blickschärfe auf dem Bleistift erhalten bleibt und kein Doppelbild zu sehen ist. Dann entfernen Sie sich wieder auf Armlänge bei beständiger Schärfe auf dem Bleistift. Diese Übung verbessert auf Dauer die allgemeine Sehfähigkeit und schafft im Gehirn Ressourcen für neue, präzise Bewegungen.»

Faszinierend: Läuft über das Handy ein Metronom, klappt es gleich viel besser mit dem Einbeinstand. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner) Faszinierend: Läuft über das Handy ein Metronom, klappt es gleich viel besser mit dem Einbeinstand. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner)

Neuland stimuliert das Gehirn

Neuroathletik kann weder den Reitunterricht noch das Fitnesstraining ersetzen, ist aber eine ideale und weit unterschätzte Ergänzung dazu. Die Übungen sind äusserst vielfältig, und bei jeder Reiterin bzw. jedem Reiter gilt es, individuell herauszufinden, welche Aktivierung hilft, einen besseren Output des Gehirns zu erhalten. Deshalb lohnt es sich, einen erfahrenen Neuroathletik-Trainer beizuziehen, der Defizite erkennen und darauf eingehen kann.

Das Gute ist: Aus der Neurologie weiss man heute, dass es nie zu spät ist, mit Gehirntraining anzufangen. Geistige Akrobatik lässt sich bis ins hohe Alter ausüben und hält Kopf und Körper fit. Ausserdem macht es Spass, denn das Gehirn belohnt jeden neuen positiven Reiz und jeden noch so kleinen Erfolg mit Glückshormonen. Und von dieser positiven Stimmung im Training profitieren nicht zuletzt auch unsere vierbeinigen Freunde, die Pferde.

Cornelia Heimgartner

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