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Pferdewohl im Spitzensport

01 November 2021 09:00

Internationale Experten sind sich einig: Um das Pferdewohl im Spitzensport zu gewährleisten, gilt es, zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen: Man muss die Grundbedürfnisse der Pferde kennen und sie so gut als möglich erfüllen, die Pferde müssen mental und körperlich auf ihre Sportkarriere vorbereitet werden, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden sind stets im Auge zu behalten, und die von den Verbänden erlassenen Massnahmen zum Schutz des Pferdewohls dürfen nicht ausser Acht gelassen werden.

Albführen’s Maddox, ein «glücklicher Athlet» unter dem Sattel von Steve Guerdat
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<br />Albführen’s Maddox, un «ahtlète heureux» monté par Steve Guerdat Albführen’s Maddox, ein «glücklicher Athlet» unter dem Sattel von Steve Guerdat. (Foto: Dirk Caremans)

Sieben Referenten aus Europa und den USA trafen sich am 11. September an der IENA-Akademie in Avenches, um im Beisein von einigen Dutzend Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmern die Frage zu erörtern, wie das Wohlergehen des Pferdes - eines der aussergewöhnlichsten Athleten überhaupt - im Sport gefördert und erhalten werden kann, damit die Anforderung des Weltreiterverbandes (FEI) nach einem «glücklichen Athleten» erfüllt ist.

Wir vergessen das Timing und missachten das Bedürfnis der Pferde, über lange Zeitspannen zu kauen.
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<br />Nous oublions le timing et le fait que les chevaux ont besoin de mâcher de longues périodes de temps. Wir vergessen das Timing und missachten das Bedürfnis der Pferde, über lange Zeitspannen zu kauen. (Foto: Imago)

Das zufriedene Pferd

Die Konferenz stand ganz im Zeichen der Frage «Sind Pferdewohl und Spitzensport miteinander vereinbar?» und erhielt vor dem Hintergrund der Geschehnisse an den Olympischen Spielen von Tokio, bei denen die deutsche Fünfkampftrainerin Kim Raisner das Pferd Saint Boy mit Fausthieben traktiert hatte, aktuelle Brisanz. Die Bilder des offensichtlich völlig verängstigten Wallachs, die um die Welt gingen und in krassem Widerspruch zu jeder Vorstellung eines «glücklichen Athleten» stehen, stellen die gesellschaftliche Akzeptanz des Pferdesports auf den Prüfstand.

Doch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im September in Avenches zusammenkamen, sind überzeugt: Es geht auch anders! Wenn der Umgang mit dem Pferd von Rücksicht und Verständnis geprägt ist und wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit einbezogen werden, lassen sich Spitzensport und Pferdewohl sehr wohl vereinbaren.

«Wir müssen uns immer wieder fragen, ob das Pferd zufrieden ist bei dem, was es tut, ob es Freude hat am Training, an der Zusammenarbeit mit uns, in seinem Alltag. Meiner Meinung nach ist dies der erste Schritt hin zum ‹glücklichen Athleten›», erklärte Emanuela Dalla Costa, DVM, PhD, Dipl. ECAWBM, von der veterinärmedizinischen Fakultät der Università degli Studi in Mailand. «Wenn das Pferd gut und gerne mitarbeitet, lässt sich seine Wahrnehmung seines Wettkampf- und Berufslebens leichter optimieren», erläutert die italienische Tierärztin.

Schmerzen erkennen und lindern. 
Ein offenes Maul kann ein Zeichen für Schmerzen im Maul sein.
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<br />Reconnaître et soulager les douleurs. Une bouche ouverte peut être un signe de douleurs buccales. Schmerzen erkennen und lindern. Ein offenes Maul kann ein Zeichen für Schmerzen im Maul sein. (Foto: Imago)

Breite Palette an Einflussfaktoren

Für Sébastien Jaulin, der im Gestüt Haras de Hus im französischen Petit-Mars für die Jungpferdeausbildung zuständig ist, beginnt die Freude an der Arbeit bereits bei der Aufzucht: «Die Aufzucht, die Unterbringung, die körperlichen Voraussetzungen, die Reitweise, die veterinärmedizinische Betreuung, die Auswahl der Prüfungen usw. sind alles Faktoren, die das geistige und körperliche Wohlergehen des Pferdes beeinflussen.»

Damit auch Sportpferde Freude an ihrem Leben haben, gelte es insbesondere auch, ihren artspezifischen Grundbedürfnissen Rechnung zu tragen, betonte Barbara Padalino, PhD, Assistenzprofessorin an der Universität von Bologna. Dazu gehöre nicht zuletzt, dass das natürliche «Zeitbudget» der Pferde berücksichtigt werde, so Padalino. Auch wenn die Domestizierung der Pferde bereits Tausende Jahre zurückliegt, haben Studien gezeigt, dass die ethologischen Bedürfnisse der Hauspferde - und damit auch der Spitzensportpferde - kaum von jenen der Wildpferde abweichen: «Im Tagesverlauf zeigen Pferde Fress-, Sozial- und Bewegungsverhalten, wobei rund 55 Prozent der Zeit auf die Futteraufnahme entfallen.»

Pferdebesitzerinnen und -besitzer legen bei der Rationenberechnung grossen Wert auf die ernährungsphysiologischen Bedürfnisse ihrer Pferde, vernachlässigen dabei aber oft die Bedeutung des Zeitbudgets der Futteraufnahme: «Wir vergessen das Timing und missachten das Bedürfnis der Pferde, über lange Zeitspannen zu kauen», erklärte Padalino und ergänzte, dass man den Pferden nicht zuletzt auch genügend Zeit einräumen müsse, um ihrem Bedürfnis nach Futtersuche gerecht zu werden.

Sportpferde könnten diese Bedürfnisse nicht immer befriedigen - sollten dies aber, denn ihr Leben sei so schon mit viel Stress verbunden, erklärte Padalino: «Der Wettkampf ist nicht nur körperlich, sondern auch emotional anstrengend.»

Die FEI positioniert sich

Sind diese Bedürfnisse befriedigt, schlägt sich das auch in der Sportkarriere nieder - davon ist der oberste Tierarzt der FEI, Goran Åkerström, überzeugt: «Zu unseren besten Reiterinnen und Reitern gehören auch die, die sich ganz besonders um das Wohl ihrer Pferde bemühen und gewährleisten, dass diese ihren verhaltensbiologischen und physiologischen Bedürfnissen nachkommen können. Das war jüngst in Tokio ganz offensichtlich.» Zu den guten Vorbildern, die Åkerström erwähnte, zählen Steve Guerdat und die Britin Charlotte Dujardin. «Ihre Pferde dürfen Pferde sein», ergänzte er, «und sie belegen Jahr für Jahr Podestplätze.»

Ein solches Konzept ist Teil der «Perspektive», welche die FEI stets anstrebt, führte Åkerström weiter aus: «Das Pferd muss immer Vorrang haben!», betonte er. «Das ist unsere moralische Verpflichtung. Und als Regulierungsorgan ist es unsere Aufgabe, nichts unversucht zu lassen, damit diese Verpflichtung überall auf der Welt wahrgenommen wird.»

Alle Pferde, auch jene, die im Spitzensport eingesetzt werden, müssen regelmässig Gelegenheit zum Tiefschlaf haben. Hierzu müssen sich die Pferde hinlegen können.
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<br />Tous les chevaux, y compris ceux de sport de haut niveau, ont besoin d’occasions régulières d’entrer dans un sommeil profond qui nécessite de s’allonger complètement. Alle Pferde, auch jene, die im Spitzensport eingesetzt werden, müssen regelmässig Gelegenheit zum Tiefschlaf haben. Hierzu müssen sich die Pferde hinlegen können. (Foto: Imago)

Unterschätzte Schmerzen

Das Pferd an erste Stelle zu setzen, bedeute auch, es nicht zu trainieren, wenn es Schmerzen hat, so Dalla Costa. «Schmerzen können beim Pferd verschiedene Ursachen haben, sei es eine einzelne Bewegung, die Wiederholung von Bewegungen, Futtermittel, Ausrüstungsgegenstände und viele Faktoren mehr.»

Pferde haben jedoch keinen expliziten Schmerzlaut, sodass Reiter, Besitzer und Grooms aufmerksam auf subtile Schmerzzeichen achten und umgehend darauf reagieren müssen. «Wir müssen lernen, die Pferde zu beobachten und Schmerzäusserungen sofort zu verstehen», betonte Dalla Costa, «denn nur dann können wir reagieren und beispielsweise die Ausrüstung oder unsere Reitweise ändern.»

Insbesondere Schmerzen im Maul könnten bei Sportpferden besser beachtet werden, ist Dalla Costa überzeugt. Pferde reagierten meist mit Sperren auf Schmerzen im Maul - und die schnellste Technik, diesem Problem zu begegnen, sei allzu oft der Einsatz eines eng verschnallten Sperrriemens. «Wir versuchen, dieses Verhalten zu vermeiden, indem wir das Maul der Pferde zuschnüren. Das ist aber keine Lösung», so die Wissenschaftlerin. «Das Pferd möchte uns mit seinem Verhalten etwas mitteilen.»

«Alle Pferde, auch jene, die im Spitzensport eingesetzt werden, müssen regelmässig Gelegenheit zum Tiefschlaf haben. Hierzu müssen sich die Pferde hinlegen können», erklärte Katherine Houpt, VMD, PhD, Dipl. ACVB, emeritierte Professorin an der tiermedizinischen Fakultät der Universität Cornell in Ithaca, New York. Um sicher zu sein, dass sich die Pferde in der Nacht auch wirklich hinlegen, könne eine Videoüberwachung hilfreich sein, führte Houpt weiter aus. Ist dies nicht der Fall, müsse unbedingt Ursachenforschung betrieben werden, um herauszufinden, ob Stress, Schmerzen, die Grösse der Liegefläche, die Einstreu oder ein anderer Faktor das Pferd vom Tiefschlaf abhalten.

Gilles Thiébaud, Präsident der Veterinärkommission des Schweizer Pferderennsport-Verbands (SPV) und Bereichsleiter Kurse und Projekte der IENA Academy, referierte über die grössten Gesundheitsrisiken für Pferde im Spitzensport. Der Leiter der Abteilung Zucht, Tiergesundheit und Gesundheitsberatung beim französischen Trabrennverband, Arnaud Duluard, sprach seinerseits über Massnahmen zur Beurteilung des Wohlbefindens von Rennpferden.

Um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen und als Fazit der Veranstaltung waren sich alle Referentinnen und Referenten einig, dass Pferdewohl und Spitzensport sehr wohl miteinander vereinbar sind, sofern den echten Bedürfnissen der vierbeinigen Athleten stets oberste Priorität eingeräumt wird und diese in einem nachhaltigen und umsichtigen Management der Sportkarriere der Pferde berücksichtigt werden.

Christa Lesté-Lasserre

 

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