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Dossier: Pferdewissenschaften

Reiten als Therapie für Körper und Seele

15 Januar 2018 08:00

Wer selber reitet oder zumindest pferdebegeistert ist, hat meistens auch schon von pferdegestützten Therapien wie Hippotherapie oder Heilpädagogischem Reiten gehört. Doch wozu werden die verschiedenen Therapieformen eingesetzt, und was können sie bewirken?

Für die meisten Pferdemenschen sind pferdegestützte Therapien ein Begriff, den wenigsten ist aber bekannt, was die verschiedenen Therapieformen bewirken, bei welchen Leiden sie eingesetzt werden und welche Anforderungen diese Arbeit an die Therapeutinnen und Therapeuten sowie an die Pferde stellt. Wie die Recherche von «Bulletin» zeigt, ist es tatsächlich ziemlich schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen und die verschiedenen Therapien voneinander abzugrenzen. Trotzdem haben wir den Versuch gewagt.

Die Hippotherapeutin ist besorgt, dass die Patientin möglichst bequem auf dem Pferd sitzen kann. 
<br />Dafür wendet sie verschiedene Hilfsmittel an, um die Sitzposition zu stabilisieren. Die Hippotherapeutin ist besorgt, dass die Patientin möglichst bequem auf dem Pferd sitzen kann. Dafür wendet sie verschiedene Hilfsmittel an, um die Sitzposition zu stabilisieren. Foto: Barbara Würmli

Physiotherapie zu Pferde

Am einfachsten zu erfassen ist die Hippotherapie-K® (K steht für Künzle, der Nachname der Begründerin), weil deren Anwendungsbereich klar abgegrenzt ist. Die Physiotherapie mithilfe des Pferdes ist eine anerkannte medizinische Behandlung, bei der die Bewegung des Pferderückens therapeutisch genutzt wird. Die Patienten lassen sich von den Schwingungen des Pferdes mittragen, ohne aktiv auf das Pferd einzuwirken. Diese Therapieform dürfen nur ausgebildete Physiotherapeutinnen und -therapeuten mit mindestens zweijähriger Berufserfahrung in Neurologie oder Pädiatrie, absolvierten Weiterbildungskursen (Bo-
bath, CAS MS oder ein CAS in Pädiatrie) und mit der Zusatzausbildung in Hippotherapie-K® praktizieren. Sie geben die notwendigen Hilfestellungen, und das Pferd wird von gut geschulten, erfahrenen Pferdeführern geführt. 

Von Krankenkassen anerkannt

Die Hippotherapie-K® ist die einzige pferdegestützte Therapie, die von den Krankenkassen beziehungsweise bei Kindern von der IV bezahlt wird. Allerdings gilt dies nur für Erwachsene mit der Diagnose multiple Sklerose und für Kinder mit einer Cerebralparese oder Trisomie 21. Unter Cerebralparese versteht man Bewegungsstörungen, deren Ursache in einer frühkindlichen Hirnschädigung liegt. Die dadurch hervorgerufene Behinderung ist charakterisiert durch Störungen des Nervensystems und der Muskulatur im Bereich der willkürlichen Motorik.

Wer andere Leiden mittels Hippotherapie-K® lindern möchte, muss die Kosten selber tragen. Die Hippotherapeutin Co-
rinne Almer, die mit ihren Isländern Orion und Tungla in Algetshausen im Kanton
St. Gallen praktiziert, erklärt: «Bei Kindern mit Cerebralparese oder Trisomie 21 bezahlt die IV bis zu deren 20. Altersjahr die Hippotherapie-K®. Leider ist dieses Vorgehen etwas widersprüchlich, denn die Situation der Patienten ändert sich mit dem Alter nicht. Wer einen Tag vor dem 20. Geburtstag Linderung durch die Hippotherapie bekommt, würde diese auch danach benötigen. In manchen Fällen wird eine Weiterführung durch die Unterstützung einer Organisation wie zum Beispiel der Cerebralstiftung ermöglicht, die Norm ist das aber nicht.»

Symptome lindern - Muskeln lockern

Erwachsene und Kinder, die unter Bewegungsstörungen leiden, wie sie bei Cerebralparese, multipler Sklerose, Halbseitenlähmungen, traumatisch bedingten Hirnverletzungen, Querschnittsläsionen und anderem auftreten, profitieren von der Hippotherapie-K®. Die Pferde bewegen sich dabei nur im Schritt. Corinne Almer erläutert: «Die rhythmischen, dreidimensionalen Bewegungen des Pferdes führen zu einer Lockerung der Muskulatur im Becken-, Bein- und unteren Wirbelsäulenbereich und somit zu einer Verbesserung der Bewegungsfähigkeit in der Lendenwirbelsäule der Patienten sowie in den Hüftgelenken. Direkt nach der Therapieeinheit sind die Kinder wie auch die Erwachsenen meistens müde, und die Wirkung zeigt sich noch nicht. Wenn sie sich ausgeruht haben, erfahren sie über eine gewisse Zeit eine Besserung der Beweglichkeit, können sich in einigen Fällen besser aufrichten, besser gehen und spastische Verkrampfungen lösen sich. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass die verschiedenen Therapien, die die Betroffenen bekommen, nur die Symptome lindern. Eine Heilung ist weder bei multipler Sklerose noch bei Cerebralparese möglich.» Nicht zu unterschätzen sei aber auch die psychisch positive und motivierende Wirkung, die die Behandlung auf dem Pferd für die meisten Patienten habe, erklärt die Hippotherapeutin weiter.

Hohe Anforderungen an Therapiepferde

Gemäss Corinne Almer ist nicht jedes Pferd für die Hippotherapie-K® geeignet. Die Pferde sollten eher klein sein, damit sie den Therapeuten eine bequeme Arbeitshöhe bieten, damit diese vom Boden aus den Patienten effiziente Hilfestellung geben können.

Wichtig ist auch, dass die Pferde gute Gewichtsträger sind, einen adäquat breiten Rücken haben, um somit den Patienten eine therapeutisch ideale, aber auch bequeme Sitzposition zu bieten,
so Almer.

Weiter müssen die Therapiepferde gut gymnastiziert sein, damit ihr Bewegungsablauf gleichmässig, locker und weich ist und es den Patienten ermöglicht, die schwingende Bewegung aufzunehmen. Und natürlich ist es unabdingbar, dass die Pferde ruhig und ausgeglichen sind.

Therapiepferde müssen absolut zuverlässig und gelassen sein. Sie dürfen sich weder durch laute Fahrzeuge noch durch andere Stressfaktoren aus der Ruhe bringen lassen. Therapiepferde müssen absolut zuverlässig und gelassen sein. Sie dürfen sich weder durch laute Fahrzeuge noch durch andere Stressfaktoren aus der Ruhe bringen lassen. Foto: Barbara Würmli

Draussen in der Natur

Die Hippotherapeutin sagt dazu: «Wenn es das Wetter zulässt, finden die Therapieeinheiten im Gelände statt. Wenn möglich zwar abseits vom Rummel auf ruhigen Wald- und Feldwegen, trotzdem ist damit zu rechnen, dass Land- und Forstmaschinen den Weg kreuzen, jemand Feuer macht oder plötzlich ein Tier aus einem Gebüsch springt. Therapiepferde müssen auch in solchen Situationen ruhig und gelassen bleiben. Entsprechend absolviere ich mit neuen Pferden zuerst auf dem Reitplatz und später im Gelände Trainings, wo ich sie mit verschiedensten Dingen wie offene Schirme, flatternde Planen, lodernde Feuer, Maschinen und Lärm aller Art vertraut mache.» Für eine optimale Hippotherapie-K®-Praxis sind also die Anforderungen an die Pferde wie auch an die Therapeutinnen und Therapeuten und die Pferdeführerinnen und -führer gross.

Vielfältige pferdegestützte Therapien

Neben der klar abgegrenzten Hippotherapie-K® gibt es viele andere Therapieformen, die mithilfe von Pferden durchgeführt werden. Beim therapeutischen Reiten steht nicht die reiterliche Ausbildung, sondern die individuelle Betreuung und Förderung in engem Bezug zum Pferd im Vordergrund. Es wird eine positive Beeinflussung des Befindens, des Sozialverhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung angestrebt. Dazu gehören der Aufbau einer Beziehung, Berühren, Führen und Pflegen des Pferdes, Aufsitzen und Sich-tragen-Lassen. Gemäss dem Verein «Pferdegestützte Therapie Schweiz» werden unter diesem breiten Begriff pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, rehabilitative und soziointegrative Einflussnahmen mithilfe des Pferdes bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit verschiedenen Behinderungen oder Störungen zusammengefasst. Dabei steht die individuelle Förderung im Vordergrund. Diese Therapieformen werden bei verschiedensten Problemen eingesetzt. Zum Beispiel bei Verhaltensstörungen verschiedener Ursache wie ADHS oder Autismus, bei Störungen der emotionalen Entwicklung, bei verschiedenen Formen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen und vielem mehr.

Therapeutisches Reiten

Eine weitere Organisation ist die «Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten». Gemäss deren Leitbild werden unter den Begriffen Heilpädagogisches Reiten und Therapeutisches Reiten pädagogische, heilpädagogische und soziointegrative sowie psychologische, therapeutische und rehabilitative Einflussnahmen mithilfe des Pferdes zugunsten von Menschen mit Beeinträchtigungen verstanden. Also ebenfalls eine grosse Bandbreite von Therapieformen. Auch hier steht nicht die reiterliche Ausbildung, sondern die individuelle Betreuung und Förderung in engem Bezug zum Pferd im Vordergrund.

Beim Therapeutischen Reiten für Kinder stehen Entdecken, Erspüren und je nach individuellen Fähigkeiten auch das Erlernen im Vordergrund. Beim Therapeutischen Reiten für Kinder stehen Entdecken, Erspüren und je nach individuellen Fähigkeiten auch das Erlernen im Vordergrund. Foto: V. Hofmänner PT-CH

Beziehung zum Pferd

Die Menschen, die die Angebote der Therapeutinnen und Therapeuten dieser beiden Organisationen in Anspruch nehmen, sind unterschiedlich geistig und/oder körperlich beeinträchtigt. Sie können und sollen - ihren Fähigkeiten entsprechend - mit den Pferden in Interaktion treten. Dazu gehören das Aufbauen einer Beziehung, das Pflegen und Führen des Pferdes, in einigen Fällen auch Mithilfe im Stall und Unterricht in der Gruppe. Je nach Therapieform können sich die Klienten auf dem geführten Pferd oder an der Longe dem lösenden Bewegungsrhythmus angstfrei hingeben, gymnastische Übungen und Geschicklichkeitsspiele ausführen. Als weiterführende Möglichkeiten bieten sich Ausreiten auf dem Hand-pferd oder auch aktives Reitenlernen an.

Barbara Würmli

Weiterführende Informationen

Das Thema «Pferdegestützte Therapien» ist enorm breit. Entsprechend ist es nicht möglich, in einem Beitrag die ganze Bandbreite zu beschreiben.

Wer sich detaillierter informieren möchte, findet viel Wissenswertes auf folgenden Webseiten:

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