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Dossier: Ausbildung

Sind wir «reitfit»? Beurteilungskriterien für den Trainingszustand von Pferd und Reiter:in

19 Juli 2021 09:00

Wie einfach oder wie schwer ist es für mein Pferd, mich zu tragen? Bestimmt hat sich schon jede Reiterin und jeder Reiter diese Frage gestellt. Die Antwort darauf ist alles andere als einfach, denn viele Faktoren spielen in diese Beurteilung mit hinein. Insbesondere dem Trainingszustand von Pferd und Reiterin bzw. Reiter kommt hier eine ganz besondere Bedeutung zu. Aber wie erkenne ich, ob mein Pferd und ich «reitfit» sind?

Bei einer ganzheitlichen Sitzanalyse darf das Pferd mit seinen eigenen Asymmetrien nicht aussen vor gelassen werden. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner) Bei einer ganzheitlichen Sitzanalyse darf das Pferd mit seinen eigenen Asymmetrien nicht aussen vor gelassen werden. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner)

Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und betrifft jeden, der sich auf den Pferderücken setzt - von der Reitschülerin über den Freizeitreiter bis hin zum Spitzensportler. Oft ist es schwierig, diese Beurteilung an sich selbst vorzunehmen, weshalb es empfehlenswert ist, hierfür eine Fachperson beizuziehen, die über ein entsprechend geschultes Auge und das nötige Hintergrundwissen verfügt.

 

Ein gut gepackter Rucksack

Jeder hat schon die Erfahrung gemacht, dass es einfacher, angenehmer und effizienter ist, anstelle eines Jutesacks einen gut gepackten Rucksack zu tragen. Das Gewicht, das man trägt, ist dadurch stabil und gleichmässig verteilt. Wenn wir dazu noch den Rücken leicht und elastisch wölben, können wir auch relativ schweres Gepäck über weite Strecken tragen - vorausgesetzt wir haben keine bestehenden gesundheitlichen Beschwerden.

Was bedeutet das auf unsere Reitsituation übertragen? Selma Latif, SVPS-Disziplintierärztin und Tierärztin an der Abteilung für Sportmedizin beim Pferd im Tierspital der Universität Zürich, fasst es so zusammen: «Um den Rücken und die Rumpfträger des Pferdes beim Reiten optimal zum Einsatz zu bringen, müssen beide - Pferd und Reiter - eine gewisse Grundsportlichkeit mitbringen. Nur dann sind sie in der Lage, die ideale Mischung aus Mobilität und Stabilität in ihrem Körper abrufen zu können. Ausserdem ist es wichtig, dass auch der Sattel für Pferd und Reiter gut passt.»

 

Eindrücklicher Anschauungsunterricht: Wie fühlt sich ein unausbalancierter Reiter für das Pferd an? Kann es unter dem Reiter noch traben? (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner) Eindrücklicher Anschauungsunterricht: Wie fühlt sich ein unausbalancierter Reiter für das Pferd an? Kann es unter dem Reiter noch traben? (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner)

Vereinfacht auf den Punkt gebracht

Es braucht also eine ganzheitliche Betrachtung des Pferd-Reiter-Paares, um zu beurteilen, wie hoch die individuelle Belastung ist und wie man diese gegebenenfalls reduzieren kann. Diese umfassende Analyse von Pferd und Reiterin bzw. Reiter erfordert gewisse Grundkenntnisse der Biomechanik beider Sportpartner. Diese sind bei vielen Trainerinnen und Trainern jedoch lückenhaft - so die Erfahrung von Angela Lohmann, die es sich mit ihrem Konzept des biomechanisch korrekten Reitens (BKR) zum Ziel gemacht hat, Pferdefachleute entsprechend zu schulen. Auch das Bildungs-, Beratungs- und Tagungszentrum Inforama in Zollikofen bietet im Weiterbildungsangebots für Berufsleute in der Pferdebranche derzeit einen BKR-Lehrgang an, der auf grosses Interesse stösst. Lohmann ist es dabei wichtig, dass komplexe Zusammenhänge vereinfacht und praxisnah vermittelt werden: «Wir müssen in komplexeren Zusammenhängen denken, diese in der Unterrichtssituation jedoch in leicht verständlichen Anregungen erarbeiten. Das heisst, wenn unser Kunde beim Reiten beispielsweise den Kopf schräg hält, hilft es wenig, wenn wir ihm in ständiger Wiederholung sagen, er soll den Kopf gerade halten. Vielmehr müssen wir analysieren, woher die schiefe Kopfhaltung kommt - meist nämlich aus dem Reiterbecken. In meinem Ansatz analysiert der Trainer seinen Kunden in drei Punkten: 1. Stimmt die Beckenposition, d.h., sitzt der Reiter wirklich senkrecht auf den Sitzbeinhöckern, oder macht er ein Hohlkreuz bzw. einen runden Rücken? 2. Stimmt die Ausrichtung am Lot, also die gerade Linie Ohr-Schulter-Hüfte-Fussgelenk, oder lehnt der Reiter beispielsweise nach hinten bzw. streckt er die Beine nach vorne? 3. Stimmt die Symmetrie im Becken von vorne und hinten betrachtet, oder knickt die Reiterin bzw. der Reiter beispielsweise in der Hüfte ein und verschiebt dabei seine Sitzbeinhöcker asymmetrisch?» An diesen drei Punkten orientiert sich der Trainer bei seiner Analyse und Korrektur des Sitzes, wobei er bei der Verbesserung des Sitzmusters der Reiterin bzw. des Reiters die wesentlichen Punkte zusammenfassen muss und diese gezielt in möglichst wenigen Korrekturen erarbeitet, empfiehlt Lohmann.

Begleitet wird Angela Lohmann bei ihren Lehrgängen von der Tierärztin und Pferde-Chiropraktorin Kirstin Becker. Sie erklärt den Kursteilnehmenden die Zusammenhänge im Pferd, die man als Trainer kennen und vermitteln muss. Auch hier geht es nicht darum, sich tierärztliches Fachwissen anzueignen, sondern darum, den Blick der Trainer für die Bewegungsabläufe und körperlichen Gegebenheiten des Kundenpferdes zu schulen: «Genauso wie wir Menschen sind auch die Pferde asymmetrisch, was zu unregelmässigen Bewegungen und dadurch einseitigen Belastungen führen kann. Funktionelle Asymmetrien zeigen sich verstärkt, wenn die Rumpfstabilität («Core Stability») ungenügend ist. Das muss ein Trainer erkennen lernen.» Typische Asymmetrien beim Pferd zeigen sich zum Beispiel durch das Hohl- bzw. Steifmachen zur linken oder rechten Körperseite hin, ungleichmässig ausgeprägte Muskelpartien links und rechts, Kurz-lang-Treten oder auch ein Verwerfen im Genick.

Das Erkennen von Asymmetrien, Tragkraft und Kompensationshaltungen bedarf einiger Übung. Deshalb sind die Blickschulung und die gemeinsame Betrachtung von Pferden aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven ein wichtiger Inhalt des BKR-Lehrganges.

Trockenübung um Sitzfehler zu erkennen. Angela Lohmann (rechts) schult das Auge der Kursteilnehmerinnen. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner) Trockenübung um Sitzfehler zu erkennen. Angela Lohmann (rechts) schult das Auge der Kursteilnehmerinnen. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner)

Mobilität und Stabilität

Reitpferde egal welcher Ausbildungsstufe erbringen eine athletisch äusserst anspruchsvolle Leistung, wenn sie einen Menschen tragen - egal, ob im Springparcours, beim Voltigieren oder beim Wanderritt. Denn Pferde sind von der Natur nicht dafür gemacht, Lasten auf dem Rücken zu tragen! Der lange Rücken und insbesondere das fehlende Schlüsselbein machen das Pferd verletzungsanfällig, wenn sie untrainiert Lasten tragen müssen. Ist die Reiterin bzw. der Reiter steif, verspannt, asymmetrisch oder schlecht koordiniert, wird das Pferd zusätzlich gefordert. Denn es muss sich und die Reiterin bzw. den Reiter zu jedem Zeitpunkt gegen die Schwerkraft stabilisieren.

Der Schlüssel zur Belastbarkeit des Pferdes liegt somit im angepassten Training. Was dies konkret bedeutet, mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, wie Kirstin Becker erklärt: «Tragkraft ist das optimale Gleichgewicht zwischen Mobilität und dynamischer Stabilität, also zwischen Beweglichkeit und Kraft. Sind beispielsweise die Rumpfträger zu schwach oder ungenügend koordiniert, wird dieses Manko anderswo kompensiert. Die Folge sind oft Verspannungen an neuralgischen Punkten, beispielsweise im Bereich des Iliosakralgelenks. Therapeuten können diese Verspannungen oder Blockaden lösen, sie werden aber immer wieder auftreten, wenn das Pferd parallel zur Mobilisierung nicht auch gekräftigt, also stabilisiert wird.»

Dasselbe gilt im Übrigen auch für den Reiter: Wer einseitig deutlich stärker bemuskelt ist, verkrampfte Muskelpartien aufweist oder ungenügend trainierte tiefe Haltemuskulaturen hat, verfügt nicht über den erforderlichen positiven Muskeltonus - die «Körperspannung» -, gepaart mit der nötigen Mobilität bzw. Beweglichkeit beispielsweise im Becken- und Hüftbereich, um den Bewegungen des Pferdes zu folgen und ausbalanciert, ohne gross zu stören, im Sattel zu sitzen.

Sitzt die Reiterin im Gleichgewicht und verfügt sie über die erforderliche funktionelle Stabilität, um das Pferd zu unterstützen? (Foto: IMAGO / Frank Sorge) Sitzt die Reiterin im Gleichgewicht und verfügt sie über die erforderliche funktionelle Stabilität, um das Pferd zu unterstützen? (Foto: IMAGO / Frank Sorge)

Herausforderung Hypermobilität

Ein Trend, den auch Selma Latif in ihrem tierärztlichen Alltag beobachtet, ist die steigende Anzahl hypermobiler Pferde, und zwar nicht nur bei den Warmblütern, sondern über alle Rassen hinweg, vom Isländer über den Haflinger bis hin zum Quarterhorse. Das ist nicht unproblematisch, wie die Expertin für Biomechanik erläutert: «Diese modernen Pferde mit ihren grossen Bewegungen erlauben keine Abstriche beim stabilisierenden Training. Sie sind mit ihrer übermässigen Beweglichkeit enormen Kräften ausgesetzt. Sind die Rumpfträger und die tiefen Haltemuskeln nicht stark genug, um diese Kräfte aufzufangen, führt dies früher oder später zu Überlastungen der Bänder, Sehnen und Gelenke.»

Abgesehen davon stellen diese Bewegungskünstler mit «viel Gummi», wie der Züchter sagt, auch für die Reiterinnen und Reiter eine nicht unerhebliche Herausforderung dar. Wollen sie die Kräfte, die auf das überbewegliche Pferd einwirken, nicht noch verstärken, müssen sie selbst über eine hohe Stabilität verfügen. «Hypermobile Pferde brauchen stabile Reiter», führt Angela Lohmann aus und ergänzt: «Gerade instabile Pferde sollte man vor dem Reiten im fleissigen Schritt warmführen, anstatt sie lange warmzureiten, denn im Schritt ist es für diese Pferde schwieriger, ausreichend positiven Muskeltonus aufzubauen, um die Strukturen zu schonen.» Diesen Hinweis gilt es auch bei vermeintlich «gemütlichen» Schrittausritten zu bedenken. Vielleicht sollte man stattdessen lieber einmal mehr fleissig mit dem Pferd an der Hand marschieren gehen? Der Reiterfitness würde dies auf jeden Fall guttun!

Sie wollen das Bewusstsein für den Einfluss der Reiterin bzw. des Reiters auf die Bewegungsqualität des Pferdes schärfen (v.l.n.r.): Kirstin Becker, Selma Latif, Angela Lohmann. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner) Sie wollen das Bewusstsein für den Einfluss der Reiterin bzw. des Reiters auf die Bewegungsqualität des Pferdes schärfen (v.l.n.r.): Kirstin Becker, Selma Latif, Angela Lohmann. (Foto: SVPS/Cornelia Heimgartner)

Bewegungsmuster erkennen und korrigieren

Die Korrektur von Asymmetrien des Pferdes aus dem Sattel ist eine Herausforderung, insbesondere bei instabilen Pferden. Sie erfordert von der Reiterin bzw. dem Reiter ein hohes Mass an reiterlichem Können, Körperbewusstsein und Stabilität. Eine solche Korrektur bedeutet einen grossen, wenn auch notwendigen Eingriff in die Biomechanik des Pferdes, wie Angela Lohmann betont: «Weniger ist hier oft mehr, gerade wenn Pferd und/oder Reiter instabil sind. Anfänglich sind die Korrektureinheiten möglichst kurz zu halten, denn sie sind mental und körperlich äusserst anspruchsvoll für Pferd und Reiter.»

Instabilitäten und Asymmetrien, sowohl vom Reiter als auch vom Pferd, lösen beim Pferd häufig Stress aus, wobei die Reaktionen auf dieses Ungleichgewicht ganz unterschiedlich ausfallen können, so Lohmann: «Manche Pferde reagieren mit Aufregung, andere mit Bewegungsunwille. Die funktionelle Stabilisierung wirkt aber in jedem Fall harmonisierend, bringt beim Pferd als individuell entweder mehr Ruhe oder mehr Aktivität.»

Die Expertinnen sind sich einig: Der Reitersitz und die Biomechanik von Pferd und Reiter kommen in der Ausbildung von Pferdefachleuten häufig zu kurz, obwohl sie ein wesentlicher Schlüssel zur Gesunderhaltung des Reitpferdes sind. Das Erkennen und Korrigieren von Sitzfehlern nach biomechanischen Gesichtspunkten sollte fester Bestandteil des Reitunterrichts werden, ohne in Formalismus und Schablonendenken abzugleiten. Jede Reiterin und jeder Reiter kann seine Stabilität und Mobilität mit entsprechendem Fitnesstraining optimieren und so dazu beitragen, zum «gut gepackten Rucksack» für sein Pferd zu werden. So wird die Belastung des Pferdes reduziert und die Tragfähigkeit erhöht. Alle am Reitsport beteiligten Personen, vom Reiter über den Trainer bis hin zum Therapeuten, müssen sich der - unter Umständen durchaus unangenehmen - Frage stellen, ob ein Pferd-Reiter-Paar «reitfit» ist. Das ist unsere ethische Verantwortung.

Cornelia Heimgartner

 

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