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Dossier: Ausbildung

«Wir brauchen im Pferdesport Menschen, die keine Scheuklappen tragen»

29 August 2022 08:00

Das Sportförderungsprogramm des Bundes «Jugend + Sport» feiert dieses Jahr sein 50-Jahr-Jubiläum. Der Pferdesport war nicht von Anfang an Teil von J+S, sondern kam erst 1996 dazu. Die treibende Kraft dahinter war Heidi Notz. Sie erzählt im «Bulletin»-Interview, was das mit Tofuschnitzel und tanzenden Reitlehrern zu tun hat.

Heidi Notz kennt den Pferdesport aus allen Perspektiven, auch als aktive Turnierreiterin. Hier 1972 mit ihrem Pferd Brodax am CS Frauenfeld. | © privat Heidi Notz kennt den Pferdesport aus allen Perspektiven, auch als aktive Turnierreiterin. Hier 1972 mit ihrem Pferd Brodax am CS Frauenfeld. | © privat

«Bulletin»: Heidi Notz, wie sind Sie überhaupt zum Pferdesport gekommen?

Heidi Notz: Ich bin in einer Pferdefamilie aufgewachsen. Schon meinem Grossvater war es immer ein Anliegen, Kinder im Reitsport zu fördern. Ich denke, es ist vor allem ihm zu verdanken, dass ich schon früh - etwa im Sekundarschulalter - auch Reitunterricht erteilt habe und daran grosse Freude hatte. Auch im lokalen Reitverein, dem KV Egnach, habe ich mich früh engagiert und bin ihm bis heute treu geblieben. Dieser frühe Kontakt zum Unterrichten hat dann wohl auch meine spätere Berufswahl geprägt. Ich habe das Lehrerseminar absolviert und wurde Sportlehrerin.

 

Hat umgekehrt auch Ihr Beruf Ihre pferdesportliche Tätigkeit beeinflusst?

Natürlich! In der Ausbildung kam ich mit zahlreichen Sportarten in Kontakt und lernte das Programm von J + S kennen - beispielsweise in der Leichtathletik. Diese strukturierte und doch praxisnahe Herangehensweise hat mich überzeugt.

Den polysportiven Ansatz aus meiner Ausbildung habe ich dann auch bei meinem Engagement im Reitverein einfliessen lassen, etwa bei der Jugendarbeit, im Bereich Vierkampf und Voltige.

 

Und dann kam die Idee auf, den Pferdesport in das Programm von J + S einzugliedern?

Der Anstoss kam vom Schweizerischen Verband für Pferdesport (SVPS) selbst. Ich war damals Mitglied der Kommission Vierkampf des SVPS und wurde angefragt, ob ich mir vorstellen könnte, in der Kommission mitzuarbeiten, die sich um die Integration des Pferdesports bei J + S kümmern sollte. Ich willigte ein und übernahm 1996 für dieses Projekt die Fachleitung «Pferdesport» beim Bundesamt für Sport (BASPO) in Magglingen. Meinen Lehrerberuf in der Ostschweiz habe ich aber weiter ausgeübt. Das war für das J + S-Projekt übrigens sehr hilfreich.

 

Wieso das?

Meine Hauptaufgabe bestand darin, das Handbuch für die künftigen J + S-Expertinnen und -Experten auszuarbeiten. Da kam mir mein Hintergrund als Lehrerin natürlich sehr entgegen. Ich war mit der Didaktik und Pädagogik von Sportunterricht in Theorie und Praxis bestens vertraut. Und alles, was ich in das Handbuch schrieb, konnte ich auch gleich bei der Jugendarbeit im Reitverein testen. Es war also nicht einfach nur graues Papier, sondern auch hemdsärmeliger Schweiss, die dieses Handbuch ausmachten. Dennoch gab es immer auch Zweifler meiner Fähigkeiten …

 

Woran wurde denn gezweifelt?

Naja, das war damals schon noch eine sehr männlich und sehr militärisch geprägte Pferdewelt. Da musste ich als Frau schon mehr leisten, um Anerkennung zu erlangen. So sagte damals ein hoher Verbandsfunktionär des SVPS zu mir: «Meinen Sie, ‹Fraueli›, Sie schaffen es wirklich, dieses Handbuch zu schreiben?» Das war tatsächlich ernst gemeint, diese Frage und diese Zweifel. Aber bei mir weckte das vielmehr den Ehrgeiz, es richtig gut zu machen.

 

Und, ist Ihnen das gelungen?

Ja, ich denke, das Handbuch ist eine rundum gute Sache geworden. Ich hatte hervorragende Unterstützung von meinem Mentor beim BASPO, Hans Ueli Mutti. Ausserdem konnte ich auch auf eine hervorragende Fachkommission (FAKO) beim SVPS zählen. In dieser FAKO waren nicht nur Vertreter der Regionalverbände, sondern auch solche aus dem Voltige, dem Westernreiten und dem Gangpferdereiten. Das führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Materie, und das war gut so. Dadurch flossen ganz verschiedene Sichtweisen und Bedürfnisse in das Handbuch ein.

Aber am wichtigsten war, dass ich mit meinem Hintergrund als Sportlehrerin die Methodik und Didaktik einer solchen Ausbildung aus der Theorie und der Praxis kannte. Das war mein gelebter Alltag. Alles, was in diesem Handbuch stand, hatte ich in der Praxis in der Schule und im Reitverein getestet, und es hatte sich bewährt.

 

Wie kam diese J + S-Ausbildung denn in der Pferdeszene an?

Bei den ersten Experten-Lehrgängen war die Nachfrage sehr gross. Das waren vor allem eidgenössische Reitlehrer, die diese Ausbildung absolvierten. Diese bildeten schliesslich die ersten J + S-Leiter aus - das waren vor allem Vereinstrainer SVPS und Bereiter.

Eine hochwertige, didaktisch und methodisch ausgereifte Ausbildung gab es im Pferdesport bisher nicht. Das Modell der J + S-Ausbildung hat dann später auch die Berufsausbildung der Pferdefachleute geprägt, die vom Aufbau her entsprechend angepasst wurde. Aber ohne die finanzielle Unterstützung von Bund und Kantonen wäre eine solche umfassende Ausbildung gar nicht bezahlbar gewesen - das ist übrigens bis heute so. Die Experten- und Leiterkurse werden ganz oder teilweise von der öffentlichen Hand abgegolten, und wenn man dann als Leiter J + S-Kurse oder -Lager organisiert, erhält man ebenfalls einen gewissen Betrag pro Teilnehmer. Das ist natürlich interessant - wir wissen alle, wie teuer die Pferdehaltung heute ist. Da ist ein solcher Zustupf für Reitschulen und Vereine mehr als willkommen.

Aber es fällt - damals wie heute - nicht allen Pferdemenschen leicht, Methodik und Didaktik zu büffeln. Sie sind es gewohnt, draussen zu arbeiten und anzupacken. Da ist es unter Umständen nicht einfach, die Schulbank zu drücken. Aber ich bin nach wie vor überzeugt: Es lohnt sich!

Die J + S-Ausbildung ist polysportiv und erfordert von den Teilnehmenden eine gewisse Offenheit für andere Ansichten und Herangehensweisen. Aber diese Horizonterweiterung tut gut, gerade im Pferdesport, wo man oft nicht über den eigenen Gartenzaun hinausdenkt. Das führte bei den ersten Kursen in Magglingen durchaus zu lustigen Szenen.

 

Ach ja?

Ich erinnere mich an einen Kurs, als wir abends in der Mensa gemeinsam zu Abend essen sollten. Da standen lange Tische, und die Vertreter der verschiedenen Sportarten assen alle zusammen. Ich hatte noch zu tun und stiess etwas später dazu. Die Pferdesport-Leute machten alle lange Gesichter, und ich fragte, was denn los sei. Da sagten sie: «Das Zeug kann man nicht essen!» Das «Zeug» waren Tofuplätzchen mit Gemüseköpfchen und Spätzli und dazu Tee. So brach die Pferdesport-Delegation frühzeitig auf, um im «Alten Schweizer» einen Cervelat essen zu gehen und sich ein Gläschen zu genehmigen …

Auch bei den sportartenübergreifenden Kursen gab es bei den Pferdesportlern manchmal im wahrsten Sinne Berührungsängste. Beispielsweise die Judokurse oder der Tanzunterricht sind eine hervorragende Ergänzung zum Reitsport, aber das kostete so manchen «Rösseler» doch eine gewisse Überwindung. Auch das Mentaltraining, das in den meisten anderen Sportarten längst gang und gäbe war, stiess im Pferdesport damals eher auf Unverständnis. Das ist kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, wie wichtig und verbreitet das Mentaltraining im Pferdesport heute ist.

 

Wie sehen Sie den Stellenwert von J + S im Pferdesport heute?

Wie gesagt sind viele Ansätze, die damals mit J + S neu in den Pferdesport kamen, heute selbstverständlich. Andere Aspekte sind heute dafür wichtiger denn je! Wer die J + S-Ausbildung macht, hat einen offenen Geist und lernt, gewisse Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Wir brauchen im Pferdesport Menschen, die keine Scheuklappen tragen. Wir stehen mehr denn je unter Beobachtung der breiten Öffentlichkeit. Nur wenn wir uns auf den Dialog einlassen und die Bedenken der Pferdesportfremden ernst nehmen, kann der Pferdesport aus ethischer Sicht langfristig Bestand haben. Wir müssen die Jugendlichen darauf vorbereiten, dass im Pferdesport morgen alles anders sein kann. Wir müssen ihr Verantwortungsbewusstsein fördern und ihre Kommunikationsfähigkeiten schulen. Sie müssen wissen, wie sie mit Kritik am Pferdesport umgehen müssen, wie sie mit Aussenstehenden konstruktiv kommunizieren sollen.

Die Jugendarbeit ist für das Überleben der Vereine zudem wichtiger denn je. Wenn die jungen Reiterinnen und Reiter mit guten polysportiven Kursen und Lagern in den Verein eingebunden werden, bleiben sie ihm auch später treu. Das sind unvergessliche Erinnerungen und lebenslange Freundschaften, die so entstehen. So pflegt man den Breitensport im Pferdesport.

Als J + S-Leiter hat man aber auch eine gewisse Verantwortung, den Trainernachwuchs zu sichern. Man muss ein gutes Vorbild sein und junge Menschen motivieren, die Trainer- oder Leiterausbildung zu machen. Auch sind es die J + S-Leiter, die junge Talente erkennen und sie den Fördergefässen der Regionalverbände zuspielen können.

Es würde mich zudem freuen, wenn J + S auch im Westschweizer Pferdesport besser Fuss fassen könnte. Es ist aber leider so, dass dort gewisse Instanzen den Zugang zur Grundausbildung für Interessierte aus der Romandie nicht gerade einfach machen. J + S ist für den Pferdesport nach wie vor eine tolle Sache, die für alle Beteiligten didaktisch, methodisch und nicht zuletzt finanziell gewinnbringend ist. Auch die Sicherheitsaspekte, die ein wichtiger Pfeiler der J + S-Kurse sind - sei es bei der Ausrüstung von Pferd und Reiter, der passenden Wahl und Zuteilung der Pferde oder dem Umgang mit Störungen -, sind aktueller denn je. Ich wünsche mir, dass dieses Ausbildungssystem noch lange Bestand hat und die in den Leiterkursen vermittelten Ansätze auch wirklich im Alltag gelebt werden.

Das Gespräch führte
Cornelia Heimgartner

50-Jahr-Jubiläum

Alle J + S-Leiterinnen und -Leiter sind herzlich eingeladen, an den Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum mitzumachen und dazu ihre Fotos zu teilen, eine Jubiläumschoreografie einzustudieren oder am 16./17. September einen Jubiläumstag zu organisieren.

Alle Informationen finden Sie hier.

Schweizer J+S-Jubiläumstage: Was ist wo los?

Das Vierkampfteam um Heidi Notz gewinnt die Schweizermeisterschaft im Jahr 2000. | © privat Das Vierkampfteam um Heidi Notz gewinnt die Schweizermeisterschaft im Jahr 2000. | © privat

Heidi Notz 1996 als Betreuerin der Vierkämpfer des KV Egnach. Das waren die Anfänge von J+S Pferdesport. Auch Wettkämpfe können über J+S abgerechnet werden, wenn die Teilnehmenden ihre Trainings unter J+S absolvieren. | © privat Heidi Notz 1996 als Betreuerin der Vierkämpfer des KV Egnach. Das waren die Anfänge von J+S Pferdesport. Auch Wettkämpfe können über J+S abgerechnet werden, wenn die Teilnehmenden ihre Trainings unter J+S absolvieren. | © privat

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