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Dossier: Portraits

Endurance: Eine Reitsportdisziplin im falschen Licht?

04 September 2023 14:00

Sie legen im flotten Trab und lockerem Galopp eine Distanz von 160 Kilometern zurück – das sind zehn Stunden und mehr im Sattel. Wie trainiert man solche Distanzen? Ist das überhaupt pferdegerecht? Und was zeichnet ein gutes Endurance-Pferd aus? Diese und weitere Fragen haben wir der Verantwortlichen der Schweizer Endurance-Elite Mireille Housencroft gestellt – und überraschende Antworten erhalten.

Das Distanzreiten – die Endurance – ist für viele Pferdesporttreibende ein Buch mit sieben Siegeln. Aufgrund von tragischen Unfällen von Pferden, Dopingmissbrauch und skrupellosen Reitern hat die Disziplin in der Vergangenheit immer wieder mit negativen Schlagzeilen Aufsehen erregt. Aber es geht auch anders, und dies mit Erfolg! Die Schweizer Endurance-Szene setzt sich unter dem Stichwort «Clean Endurance» seit mehr als zehn Jahren vehement für einen ethischen Distanzsport ein und beweist auch im internationalen Umfeld, dass man mit der Spitze mithalten kann, auch wenn man sich an alle Regeln hält.

Mireille Housencroft ist seit Anfang 2022 für das Schweizer Elite-Kader der Endurance zuständig und kennt die Disziplin in all ihren Facetten. Als Hufpflegerin hat sie sich intensiv mit der Anatomie der Pferde befasst, hat sich zur Endurance-Richterin ausbilden lassen und war selbst mehrere Jahre Mitglied des Schweizer Endurance-Perspektiv-Kaders. Heute lebt sie im grenznahen Frankreich – nicht zuletzt, um ihre Leidenschaft für das Distanzreiten ausleben zu können.

(c) Lea Styger (c) Lea Styger

Mireille Housencroft, was war zuerst: die Leidenschaft für den Distanzsport oder die Leidenschaft für Pferdehufe?

Ich war schon immer gerne lange mit dem Pferd unterwegs, machte Patrouillenritte und Wanderritte. Da sind gesunde Hufe und der passende Hufschutz natürlich immer ein Thema. So habe ich angefangen, mich für das Thema zu interessieren, habe die Hufe meiner eigenen Pferde selbst bearbeitet und mich stetig weitergebildet, bis es zu meinem Beruf wurde. Hufe sind ein unheimlich spannendes Thema. Man sagt nicht umsonst «ohne Huf, kein Pferd». Das ist gerade auch im Distanzsport ein ganz zentraler Punkt. Das habe ich gemerkt, als ich dann selbst in die Endurance eingestiegen bin. Wenn Pferde zehn Stunden über harten Boden laufen, brauchen sie einen Hufschutz. Bis zu einer Distanz von etwa 40 Kilometern kann man das noch barhuf und mit Hufschuhen machen, aber danach braucht es einen Beschlag, sei es Eisen oder einen Kunststoffbeschlag. Das ist eine Frage des «wellfare of the horse», also des Tierschutzes und Pferdewohls.

 

Die gute Hufbearbeitung allein macht aber noch kein erfolgreiches Endurance-Pferd. Was zeichnet ein gutes Endurance-Pferd aus?

Ein gutes Endurance-Pferd bringt einen guten Körperbau und eine möglichst optimale Huf- und Beinstellung mit. Ungleichgewichte muss das Pferd immer kompensieren. Wenn man mit einem nicht ideal gebauten Pferd eine Stunde durchs Gelände spaziert, wird die Abnützung aufgrund dieser Kompensation nicht ins Gewicht fallen. Bei einer Distanz von 160 Kilometern in zehn Stunden ist das eine ganz andere Geschichte. Ausserdem muss das Pferd von sich aus lauffreudig sein. Das bedeutet nicht, dass es schnell und hibbelig sein soll – im Gegenteil. Solche Pferde würden im Endurance-Sport viel zu rasch ermüden. Wir wünschen uns Pferde, die sich gerne und ausdauernd bewegen, dabei aber über ein ausgeglichenes und dennoch kämpferisches Temperament verfügen. Auch was den Stoffwechsel angeht, suchen wir Pferde, die belastbar sind und sich nach Anstrengungen rasch erholen. All diese Eigenschaften bringt beispielsweise das arabische Vollblut mit, wobei es auch hier unterschiedliche Zuchtlinien gibt. Die einen sind mehr auf Schönheit gezüchtet – die sind für uns weniger interessant – und die anderen kommen aus bewährten Leistungslinien mit sporterprobten Stuten- und Hengststämmen.

Arabische Vollblüter bringen je nach Zuchtlinie ideale Eigenschaften für den Distanzreitsport mit. | (c) Lea Styger Arabische Vollblüter bringen je nach Zuchtlinie ideale Eigenschaften für den Distanzreitsport mit. | (c) Lea Styger

Nun steht das Jungpferd mit besten Voraussetzungen für den Endurance-Sport in unserem Stall. Wie bringe ich so einen Athleten aber auf das Leistungsniveau eines 160-Kilometer-Rennens?

Ein Pferd auf dieses Leistungsniveau zu bringen, braucht sehr viel Zeit. Es dauert Jahre bis es körperlich und mental in der Lage ist, einen 160-Kilometer-Ritt zu bewältigen. Wenn dieser Aufbau nachhaltig und sorgfältig vonstattengeht, sind die Pferde meist etwa 12-jährig, bis sie Championatsniveau erreicht haben. Das Qualifikationssystem, das wir in unserem Sport kennen, gibt diesen kontinuierlichen Aufbau vor. Nur schon um die sogenannte «novice qualification» zu erreichen – das ist die Einsteigerstufe im internationalen Endurance-Sport – braucht es etwa zwei Jahre. Dann braucht es nochmals etwa ein Jahr für die Qualifikation auf Einstern-Niveau mit zwei 100-Kilometer-Ritten, nochmals ein bis eineinhalb Jahre für die Zweistern-Qualifikation mit zwei 120-Kilometer-Ritten und nochmals gut eineinhalb Jahre für die Dreistern-Qualifikation mit zwei 140- bzw. 160-Kilometer-Ritten. Man muss bedenken, dass man solche Ritte nicht öfters als zwei- bis dreimal im Jahr absolvieren kann, wenn man den Partner Pferd schonend und langfristig aufbauen möchte.

 

Das sind schon enorme Distanzen, die bereits zu Beginn der sportlichen Karriere absolviert werden müssen. Wie trainiert man ein Pferd für solche Ritte?

Kurz gesagt: In der Ruhe liegt die Kraft. Das Basistraining eines Endurance-Pferdes besteht aus viel aktivem Schrittreiten im Gelände. Gerade mit jungen Pferden bietet sich da beispielsweise eine Steigerung bis hin zu sechsstündigen Wanderritten im fleissigen Schritt und kurzen Trabstrecken an. So wird der Band- und Knochenapparat optimal auf die spätere Belastung vorbereitet. Der Nationaltrainer der Schweizer Endurance-Elite, Allan Léon, sagt immer: «Bis zum ersten 100-Kilometer-Ritt braucht es kein Galopptraining.» Und selbst dann wird das Intervall-Galopptraining erst kurz vor dem Rennen hinzugenommen.

Das gymnastizierende, dressurmässige Training ist für Endurance-Pferde ganz wichtig, damit sie lernen, sich schonend und in balancierter Selbsthaltung zu bewegen. Damit wird die Belastung auch über lange Distanzen reduziert.

Die Schweizerin Nina Lissarrague mit Koweït Mouthes an der Weltmeisterschaft 2023 der Endurance-Elite in Boutheeb (UAE) | (c) Marijke Visser Die Schweizerin Nina Lissarrague mit Koweït Mouthes an der Weltmeisterschaft 2023 der Endurance-Elite in Boutheeb (UAE) | (c) Marijke Visser

Wie bereiten sich die Elite-Reiterinnen, welche die Schweiz an der Europameisterschaft in Ermelo (NED) vertreten werden, auf dieses Rennen vor?

Wenn Pferd und Reiter über eine gute Grundfitness verfügen, wie dies bei den selektionierten Paaren selbstverständlich der Fall ist, beginnt das gezielte Wettkampftraining etwa acht bis zwölf Wochen vor dem Rennen. Man reitet aber nicht täglich zehn Stunden auf Tempo – das würde die Pferde nur verschleissen. Es geht vielmehr darum, das verfügbare Gelände vorwiegend im Schritt und Trab kreativ zu nutzen. Generell gibt es kein fixes Trainingsraster, da jedes Pferd anders auf Trainingsreize reagiert und auch jede der Reiterinnen ein anderes Gelände zur Verfügung hat.

Etwa einmal im Monat, also drei- bis viermal vor dem Turnier, werden auch gezielte Galopptrainings geplant, bei denen man erst eine Dreiviertelstunde, dann eine Stunde und schliesslich eineinhalb Stunden galoppiert.

Gerade im Hinblick auf das Rennen in Ermelo ist das ein wichtiges Trainingselement. Die Strecke ist flach, der Boden aus Natursand. Das Rennen wird über lange Galoppstrecken verlaufen. Das ist eine ganz andere Situation als an der Weltmeisterschaft Anfang Jahr in der Wüste von Butheeb (UAE), bei welcher der Veranstalter die dortigen Naturgegebenheiten wie Dünen als Anstiege, tiefer Sand oder waldige Wegstücke miteinbezogen hat. Eine gute Vorbereitung auf die Europameisterschaft in Ermelo war beispielsweise das Turnier im französischen Fontainebleau. Die Böden sind sehr ähnlich.

 

Wie bereitet man sich mental auf ein so langes Rennen vor?

Auf einem solchen Ritt hat man natürlich viel Zeit, um nervös zu werden und an sich zu zweifeln. Gerade, wenn die Reiterinnen und Reiter langsam müde werden. Deshalb kann man die mentale und körperliche Komponente auch nicht so eindeutig trennen. Einige Reiterinnen arbeiten mit einem Mentalcoach, andere entwickeln eigenständig Praktiken, um sich in solchen Momenten zu helfen. Grundsätzlich hilft aber eine gute Fitness des Reiters, um bis zum Schluss auch mental aktiv im Geschehen zu bleiben und das Pferd bis zum Zieleinlauf optimal zu unterstützen. Dafür braucht es Ausdauer-, Kraft- und Gymnastiktraining. Aber auch beispielsweise die Ernährung vor und während dem Ritt ist ein matchentscheidender Faktor.

 

Wo steht die Schweiz im europäischen Vergleich? Was sind die Erwartungen für die Europameisterschaft in Ermelo?

Von den selektionierten Reiterinnen sind einige grundsätzlich in der Lage, mit der Spitzengruppe mitzuhalten. Andere wiederum sind solide Team-Reiterinnen, die im Feld mitreiten und ein sicheres Rennen anstreben werden. Beides ist in einem Team wichtig. Je schneller der Ritt, desto grösser das Risiko eines Ausfalls. Aber wenn man nach den Medaillen greifen will, muss man ein kalkuliertes Risiko eingehen und mit Köpfchen reiten.

In der Teamwertung streben wir eine Platzierung unter den besten fünf an. Wenn alles optimal läuft, ist in der Einzelwertung vielleicht sogar eine Medaille möglich. Ich würde mich freuen, wenn wir beweisen könnten, dass wir als Team aus mehrheitlichen «Hobbyreiterinnen» mit der europäischen Elite mithalten können. Das Wichtigste ist aber, dass alle Pferde und Reiterinnen gesund wieder nach Hause kommen.

In den Pausen während dem Rennen können die Pferde trinken, fressen und dösen. | (c) Lea Styger In den Pausen während dem Rennen können die Pferde trinken, fressen und dösen. | (c) Lea Styger

Stichwort Gesundheit: Wie wird das Pferdewohl an einem solchen Rennen sichergestellt?

Das «wellfare of the horse» nimmt im Endurance-Sport inzwischen einen sehr hohen Stellenwert ein. Selbstverständlich müssen – wie in allen FEI-Disziplinen – vor jedem Turnier Temperaturmessungen vorgenommen werden, damit keine kranken Pferde auf das Wettkampfgelände kommen. Ausserdem kennt der Equipentierarzt Anton Assmann die Pferde sehr gut und behält sie immer im Auge.

Am Turnier findet dann zunächst ein veterinärmedizinischer Eingangstest statt. Es werden Puls und Atmung als Referenzwerte gemessen, die Pferde werden über vierzig Meter hin und zurück vorgetrabt und auch die metabolischen Werte, das heisst die Darmtätigkeit, der Flüssigkeitshaushalt etc., werden überprüft.

Während dem Ritt gibt es sogenannte «groom points», wo für die Pferde Wasser zum Trinken und Kühlen von den Betreuern des Reiters gereicht wird. Ausserdem wird die Strecke in mehrere Schlaufen eingeteilt, und nach jeder Schlaufe erfolgt ein Vet Check. Dort werden Puls und Atmung, die metabolischen Werte und der Gang kontrolliert. Nur wenn die Pferde fit sind, dürfen sie die nächste Schlaufe in Angriff nehmen. Davor gibt es aber eine mindestens 40-minütige Pause. Die Pferde werden vor dem Vet Check abgesattelt, abgezäumt und gekühlt . In der Pause sie können Heu fressen und erfahrene Endurance-Pferde nutzen diese Pause auch, um kurz zu dösen. Das wiederholt sich nach jeder Schlaufe, also auch nach dem Zieleinlauf – dann jedoch ohne die Pause. Das Resultat zählt nur, wenn das Pferd den abschliessenden Vet Check besteht.

Trotz aller – auch berechtigter – Kritik an unserem Sport wünsche ich mir, dass die vielen Athletinnen und Athleten, die alles daransetzen, diesen Sport «sauber» und in liebevoller Partnerschaft mit dem Pferd zu betreiben, auch anerkannt werden. Es gibt die schwarzen Schafe, und gegen sie muss man in aller Härte vorgehen. Aber es gibt auch die anderen. Und sie verdienen es, dass man ihnen mit Respekt vor dem grossen Engagement und dem enormen Aufwand, den sie für die Endurance betreiben, begegnet.

Das Gespräch führte
Cornelia Heimgartner

Mireille Housencroft, Kaderverantwortliche Endurance Elite Mireille Housencroft, Kaderverantwortliche Endurance Elite

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